Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2020

Der Abscheu vor dem Ungewissen
von Paul B. Kleiser

Die sog. «Corona-Krise» hat zu einer Neubelebung und massenweisen Ausbreitung von Verschwörungstheorien, vor allem im Internet, geführt. Dort wird noch der krudeste Schwachsinn «gelikt», auch, weil es um Emotionen geht und im Netz eine kritische Debatte kaum möglich ist. Vieles davon ist altbekannt und taucht nur in immer neuem Gewand auf.

Das COVID-19-Virus ähnelt zwar anderen Virenarten, die von Tieren auf Menschen übergesprungen sind, doch vieles ist noch unbekannt und ungeklärt; auch ExpertInnen sind sich häufig uneinig. Hier greifen die Verschwörungstheoretiker zu. In der klassischen politischen Form macht man die gegnerische Macht für die Epidemie verantwortlich: Während Donald Trump vom «chinesischen Virus» spricht und damit insinuiert, es sei bewusst in die Welt gesetzt worden, um den USA zu schaden, macht auch die gegenteilige «Theorie» die Runde, das Virus sei eine Schöpfung des US-Geheimdienstes.
Der Sänger Xavier Naidoo aus Mannheim (der gerade einen Prozess darüber führt, ob man ihn einen Antisemiten nennen darf oder nicht) meint z.B., dass die Corona-Pandemie genauso wie die Klimakrise eine reine Erfindung sei. Wer steckt seiner Ansicht nach hinter Corona und der Bewegung der «Fridays for Future»? Der Antichrist! Warum? Weil das F der sechste Buchstabe des Alphabets ist, FFF also = 666 = Antichrist (Offenbarung des Johannes im Neuen Testament).
Indirekt wird hier eine «Erkenntnis» ausgesprochen: Nämlich dass die religiösen Weltbilder zusammengebrochen sind, aber Relikte davon weiterwirken. Ein wirklich Gläubiger hätte früher gesagt: Bei Corona handelt es sich a) entweder um eine göttliche Prüfung, die zeigen soll, wer darauf gottgefällig reagiert (so das Vorwort von Boccaccios Decamerone, das vor dem Hintergrund der Pestepidemie 1348 geschrieben wurde); oder aber b) um einen Angriff des Satans, der seine Anhänger in die Hölle hinabziehen möchte. (Die Oben-unten-Symbolik hat bis heute große Kraft! Papst Franziskus hat mit Bezug auf die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche vom «Wirken des Satans» gesprochen.)
«Satanisten» spielen in vielen Verschwörungstheorien eine große Rolle. Darin wird die (letztlich religiöse) Thematik von «Heil versus Unheil» oder aber von «Reinheit versus Unreinheit» ausgewalzt, die auch die Grundlage aller Rassismen ist (Juden sind «Stinkjuden», bestimmte Weiße sind «reine Arier» usw.).
Angesichts der Zufälligkeit der Ereignisse geht es den Verschwörungsideologen darum, ein Weltbild zu konstruieren, das einem für viele Menschen unheimlichen Geschehen einen eindeutigen Sinn verschafft. Den klassischen europäischen Verschwörungstheorien seit der Ausbreitung der Pest liegt fast immer Antisemitismus zugrunde! Die Ankunft der Pest in Europa und frühe Judenvertreibungen bzw. -pogrome fanden zur gleichen Zeit statt!

Die Impfgegner
Laut Umfragen glauben bis zu 20 Prozent der Bevölkerung an eine «Impfverschwörung». Besonders der Journalist Ken Jebsen, der vom RBB wegen Antisemitismus gefeuert wurde und der über eine ziemlich große «Follower-Gemeinde» verfügt, ist einer ihrer Anhänger.
Er betreibt das Feindbild Bill Gates. Denn erstens ist dieser ziemlich reich (sein Vermögen wird auf 110 Mrd. Dollar geschätzt); zweitens hat er in erheblichem Umfang die WHO unterstützt – die WHO ist eine Unterorganisation der UNO, deren Tätigkeit u.a. von der US-Regierung unter Trump hintertrieben wird; der Anteil der Gates-Stiftung daran liegt aber bei unter 10 und nicht bei den behaupteten 80 Prozent! Drittens gehört er zu den «links-alternativ versifften» 68ern und viertens gilt er einigen als Jude (wohl weil sein Vater in einer Anwaltskanzlei mit Juden zusammengearbeitet hat) – da fügt sich also alles zusammen!
Jebsen geht sogar soweit zu behaupten, Bill Gates und seine Frau Melinda verfügten «über mehr Macht als seinerzeit Roosevelt, Churchill, Hitler und Stalin gemeinsam», wie er am 16.Mai den DemonstrantInnen in Stuttgart zurief. Schon dieser Vergleich spricht Bände! «Bill Gates» (bzw. seine Stiftung) «steuern die Corona-Maßnahmen in Deutschland.» Andere fügen noch (den Juden) George Soros hinzu, weil dessen «chinesisches Labor WuXi Pharma Tech Inc.» in Wuhan direkt neben dem chinesischen Forschungslabor liege. Laut Jebsen plant Gates eine «weltweite Durchsetzung einer Impfpflicht». Andere ergänzen: «Es soll allen Menschen ein Chip eingesetzt werden, um sie zu kontrollieren.»
Natürlich gäbe es gute Gründe, das monopolistische Microsoft-System und seine Auswirkungen auf den weltweiten Datenverkehr zu kritisieren, aber der reale Kapitalismus interessiert die Verschwörungstheoretiker nicht. Ansonsten könnten sie sich in Germanien ja auch an Dietmar Hopp von SAP halten, der in eine Tübinger Firma investiert, die einen Impfstoff gegen Corona entwickelt!
Verschwörungserzählungen in Zusammenhang mit Epidemien sind nichts Neues: Schon in den 1980er Jahren kursierten (auch unter Linken!) Narrative, wonach AIDS eine Erfindung der CIA sei, um die afrikanische Bevölkerung zu dezimieren. Der Chef der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, meinte neulich, die Welt habe es nicht nur mit einer «Pandemie», sondern auch mit einer «Infodemie» zu tun.

Eine lange Tradition
Die Impfgegnerschaft als relativ verbreitete Erscheinung geht in Deutschland auf den Umkreis des Antisemiten Eugen Dühring im Zusammenhang mit der damaligen Debatte um die ­Pockenimpfung zurück. Dühring hatte 1881 eine Kampfschrift gegen das Impfen veröffentlicht. Er hatte großen Einfluss nicht nur im bürgerlichen Lager, sondern auch in der Arbeiterbewegung; das bewog schließlich auf vielerlei Bitten Friedrich Engels dazu, seinen Anti-Dühring (MEW 20) zu veröffentlichen. Dort spricht er vom «bis ins Lächerliche übertriebene(n) Judenhaß, den Herr Dühring bei jeder Gelegenheit zur Schau trägt», ohne diesen Hass aber sonderlich ernst zu nehmen. Für Dühring waren die Impfungen schlicht «verjudet» (u.a. weil es damals unter den bedeutendsten deutschen Medizinern viele Juden gab).
Hier verbanden sich also Neid, Missgunst und eine krude Ideologie, die später von den Nazis übernommen wurde, die dem deutschen «Volkskörper» eine «ganzheitliche Volksmedizin» angedeihen lassen wollten. Das heute noch gültige «Heilpraktikergesetz» stammt von 1939! Es verlangt nur eine marginale Ausbildung und ist nicht zu verwechseln mit der Naturheilkunde.
Laut Dühring wollte die «jüdische» (oder «verjudete») Schulmedizin angeblich diesen deutschen «Volkskörper vergiften», eben um die Arier «zu beherrschen». Kratzt man bei den Verschwörungsnarrativen an der Oberfläche, tritt fast immer eine klassische Legende zu Tage: Entweder möchten die «Freimaurer» oder die Juden die Weltherrschaft an sich reißen.
Die historisch wirkmächtigste Verschwörungslegende waren und sind die «Protokolle der Weisen von Zion» (1903), die behaupten, die Juden hätten sich verschworen, um die «Weltherrschaft» anstreben. (Sie waren eine Fälschung der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei.) Diese Legende war eine starke Waffe im Kampf gegen die «Ideen von 1789», also der Aufklärung, mit denen Joseph Goebbels bekanntlich «Schluss machen» wollte.

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