Von den Anfängen der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien
von Paul Michel
Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung und die damit einhergehende Selbstverwaltung der Kommunen sind heutzutage fast vergessen. Von den 50er bis in die 70er Jahre war das Projekt, das die jugoslawischen Kommunisten «erfunden» hatten, nachdem sie 1948 von Stalin exkommuniziert worden waren, in aller Munde.
Zwei Jahrestage, der Tod Titos am 4.Mai 1980 und die offizielle Einführung der Arbeiterselbstverwaltung am 27.Juni 1950, sind Anlass, verschüttet gegangene Erfahrungen wieder auszugraben und ins kollektive Bewusstsein der Linken zurückzuholen.
1948: Der Bruch zwischen Tito und Stalin und seine Folgen
Am 28.Juni 1948 erfuhr die Welt durch eine kurze Zeitungsmeldung vom Rauswurf Jugoslawiens aus dem Kominform*. Die internationale Öffentlichkeit reagierte darauf ungläubig. Viele im Westen hielten das für einen «Bluff». Denn bei ihnen hatte Jugoslawien bisher als «Musterschüler» Stalins gegolten. Tito und die anderen Führungsmitglieder der jugoslawischen KP wollten den Streit zunächst nicht zuspitzen. Sie erklärten, es handle sich um Missverständnisse, die gegen sie erhobenen Vorwürfe träfen nicht zu. Sie betonten das Recht Jugoslawiens auf eigenständiges Handeln, übten aber keinerlei Kritik am Modell Stalins.
Erst auf dem Januar-Plenum 1949 äußerte die jugoslawische Führung erstmals Kritik an der Politik der UdSSR. Im Frühjahr, nach einem Treffen des Politbüros in Split, begann sie, nach neuen Wegen zu suchen und erste Umrisse dessen, was später als Arbeiterselbstverwaltung bezeichnet werden sollte, zu entwickeln. Sie griff den alten Marxschen Gedanken wieder auf, wonach im Sozialismus der Staat «absterben» solle.
Arbeiterselbstverwaltung konkret
Mit dem «Gesetz über die Verwaltung der staatlichen Wirtschaftsunternehmen» vom Juni 1950 wurde die Arbeiterselbstverwaltung institutionalisiert. In über 6000 Betrieben sollten die Belegschaften Arbeiterräte wählen, die, abhängig von der Größe des Betriebs, zwischen 15 und 120 Mitglieder umfassten. Wahlberechtigt waren alle Beschäftigten eines Betriebs.
Der Arbeiterrat wurde das höchste Kontrollorgan im Betrieb. Er entschied über Produktion, Geschäftsgebaren und Organisation des Unternehmens. Ihm oblag die Genehmigung des Wirtschaftsplans. Damit bestimmte er über alle die Produktion betreffenden Fragen wie die Erstellung des Jahresplans und der Monatspläne, aber auch über Zukauf und Verkauf von Produktionsteilen.
Der Verwaltungsausschuss des Unternehmens (mit zwischen 3 und 17 Mitgliedern) wurde vom Arbeiterrat gewählt. Der Verwaltungsausschuss erledigte das Alltagsgeschäft im Betrieb. Er erstellte die Vorlagen für den Wirtschaftsplan und die Jahresschlussbilanz, die dann dem Arbeiterrat zur Zustimmung vorgelegt wurden. Er kümmerte sich um Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen und allgemein die Abläufe im Betrieb. Laut Gesetz sollte er «Maßnahmen zur Förderung der Produktion und besonders zur rationelleren Gestaltung der Produktion, der Steigerung der Produktivität, Verringerung der Produktionskosten, Verbesserung der Qualität der Erzeugnisse…» treffen. Er, nicht der Direktor, besetzte die Stellen der leitenden Angestellten.
Jeder Betrieb hatte einen Direktor. Zunächst wurden Direktoren noch von oben ernannt. Seit 1953 mussten Direktorenposten öffentlich ausgeschrieben werden. Die Auswahl erfolgte durch eine Kommission, in der der Arbeiterrat, der örtliche Produzentenrat und die Industriekammer der Branche vertreten waren. Der Direktor war der «oberste Angestellte» des Betriebs. Er leitete die täglichen Geschäfte und vertrat das Unternehmen im Wirtschaftsverkehr mit anderen Unternehmen. Außerdem hatte er darüber zu wachen, dass alles gesetzeskonform ablief. Auf den Direktorposten wurden sehr oft «politische» Persönlichkeiten berufen, die im Befreiungskrieg in der Partisanenarmee Führungspositionen bekleidet oder sich sonstwie Verdienste erworben hatten. Diese Leute hatten oft wenig oder gar keine wirtschaftliche und/oder technische Kompetenz.
Die Umsetzung des Konzepts in die betriebliche Praxis war von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich. Bei einigen lief es gut, bei anderen weniger gut. An wichtigen Entscheidungen des Managements waren die Arbeiterräte nicht oder nur oberflächlich beteiligt. Oft bestimmten Vorarbeiter, Techniker und Büroangestellte in recht autokratischer Form, wo es lang geht. Als hinderlich erwies sich das oft recht niedrige Qualifikations- und Bildungsniveau vieler ArbeiterInnen. Arbeiterselbstverwaltung scheint dort, wo es wie in Slowenien eine ausreichend qualifizierte Arbeiterschaft gab, besser funktioniert zu haben als in den unterentwickelten südlichen Landesteilen. Frauen spielten in den Gremien so gut wie keine Rolle.
Offenbar gab es viele Klagen, dass das Management sich viele Privilegien zuschustere: besser bezahlte Jobs, Sonderprämien, häufig Sitzungen in der Arbeitszeit. Außerdem gab es Klagen, die Information der ArbeiterInnen über die Tätigkeit des Managements lasse sehr zu wünschen übrig. Andererseits ist die Tatsache, dass es solche Klagen gab, auch ein Indiz dafür, dass viele Arbeiterinnen und Arbeiter sich ihrer Rechte durchaus bewusst waren. In diese Richtung weist auch der Umstand, dass bei der Wahl der Arbeiterräte die Wahlbeteiligung hoch war: 1952 und 1954 87 Prozent, 1956 88 Prozent.
Auch die Tatsache, dass 1956 1480 Mitglieder der Arbeiterräte und 483 Mitglieder von Verwaltungsausschüssen während ihrer Amtszeit in Extraabstimmungen abgewählt wurden, weist in diese Richtung.
Die jugoslawische Gemeindeverwaltung
Die zweite wichtige Säule des jugoslawischen Systems der Selbstverwaltung war die Gemeindeverwaltung. Sie trat mit dem «Gesetz über die Volksausschüsse» vom 1.April 1952 in Kraft. Die Volksausschüsse wurden zu Trägern der «direkten Demokratie».
Die Gemeindeverwaltung war ein Zweikammersystem: Die Abgeordneten für den Gemeinderat wurden von allen BürgerInnen gewählt. Die Abgeordneten für den «Produzentenrat» wurden von den Werktätigen der örtlichen Betriebe aus Industrie, Landwirtschaft und Handwerk gewählt. Die Zahl der zu vergebenden Sitze war abhängig vom Beitrag der jeweiligen Unternehmen zum Sozialprodukt.
Beide Kammern hatten gleichberechtige Entscheidungsbefugnis in allen örtlichen Angelegenheiten, die etwas mit lokalen wirtschaftlichen Dingen zu tun hatten. Der Gemeinderat hatte allerdings das alleinige Sagen in Fragen der Bildung, Kultur, Gesundheit und der allgemeinen Verwaltung.
Neu war, dass nun die «Volksausschüsse» auch wirtschaftliche Funktionen zugesprochen bekamen: Sie kontrollierten die in ihrem Zuständigkeitsbereich ansässigen Betriebe und wirkten bei der Erstellung und Durchführung des Wirtschaftsplans mit. Sie sammelten für die Zentralverwaltung in Belgrad die Bundessteuern ein und passten darauf auf, dass die einzelnen Betriebe den Plan erfüllten. Sie bestimmten mit über die Höhe der Löhne in den Betrieben der Region und über Einstellung und Entlassung der Leiter der Unternehmen. Sie überwachten die Arbeit der Betriebe und konnten im Fall von Missmanagement auch die Organe der Arbeiterselbstverwaltung vorübergehend suspendieren. Sie konnten sogar Betriebe schließen.
Elemente direkter Demokratie
Gerade im kommunalen Bereich wurde versucht, Aufgaben, die bisher von staatlichen Institutionen erledigt worden waren, ganz oder zumindest teilweise aus den staatlichen Apparaten herauszunehmen und von den Bürgerinnen und Bürgern selbst erledigen zu lassen.
Ein Beispiel dafür waren die Wählerversammlungen. In den Wählerversammlungen mussten die Bürgerinnen und Bürger im Abstand von mindestens zwei Monaten über die Tätigkeit der «Volksausschüsse» informiert werden. Sie waren zugleich Foren, wo sie ihre Anliegen und Beschwerden gegenüber den Volksauschüssen vortragen konnten. Dort konnten Vorschläge für die Arbeit der Volksauschüsse gemacht, aber auch Verfahren zur Abwahl von Mitgliedern der Volksausschüsse eingeleitet werden, die ihren Aufgaben nicht nachkamen. Darüber hinaus konnten aus den Wählerversammlungen heraus Referenden zu umstrittenen Fragen initiiert werden. Das Ergebnis dieser Referenden war bindend für die Volksauschüsse. Zumindest Mitte der 50er Jahre scheinen diese Versammlungen gut besucht gewesen zu sein.
Ein anderer Ort der Bürgereinbindung waren in den 50er Jahren Beiräte, die bei den kommunalen Unternehmen gebildet wurden. Solche Beiräte gab es bei öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Bibliotheken. Diese Einrichtungen waren verpflichtet, mindestens alle zwei Monate den in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden Menschen über ihre Tätigkeit Rechenschaft abzulegen.
Das ist wohl mit dem vergleichbar, was wir heute Elternausschüsse oder Patientenausschüsse nennen – allerdings hatten die jugoslawischen Beiräte mehr Kompetenzen. Bei Zeitungen, Radiostationen und bestimmten Verlagen gab es Ausschüsse, an denen Privatpersonen teilnahmen, die nicht Beschäftigte der betreffenden Institution waren. In Wohnanlagen gab es Nachbarschaftsräte, die sich um die Verbesserung der Wohnbedingungen kümmerten. Man geht davon aus, dass sich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre etwa eine Million Menschen lokalpolitisch engagierten. In Belgrad soll sich jeder fünfte Bürger an solchen Aktivitäten beteiligt haben.
Auf kommunaler Ebene gab es für die Bürgerinnen und Bürger sehr viele Möglichkeiten der Einflussnahme und der Mitwirkung – deutlich mehr als auf Bundes- oder Republikebene. Zweifellos hat dieses Modell der lokalen Selbstverwaltung viel Initiative freigesetzt. Es stieg das Interesse, daran mitzuwirken, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. Dadurch nahmen mehr Menschen an der konkreten Verwaltungstätigkeit teil.
Betriebliche Selbstverwaltung und Gemeindeverwaltung verkörperten zumindest in den 50er Jahren die emanzipatorische Seite des jugoslawischen Modells. Von Anfang hatte dieses Modell jedoch auch seine Schattenseiten. Darüber ein andermal.
*Kominform: Abkürzung für «Kommunistisches Informationsbüro», ein Bündnis von an Moskau orientierten KPs aus zehn Ländern, das 1947 an die Stelle der 1943 von Stalin aufgelösten Kommunistischen Internationale trat und bis 1956 existierte.
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