Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2020

Der gesättigte Automarkt, die Klimakrise und Corona lassen dem Autozulieferer ZF Friedrichshafen keine andere Chance
von Manfred Dietenberger*

Die Lage ist wirklich ernst: «Unsere jüngste Umfrage zeigt: Über 80000 Beschäftigte in 270 Betrieben sind in hoher oder akuter Insolvenzgefahr. Und diese Zahlen steigen», sagt Jörg Hofmann, der Vorsitzende der IG Metall, Anfang Juni 2020.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung war schon im Herbst 2018 zum Schluss gelangt, dass eine «übereilte» Umstellung der Produktion auf Elektromobilität in der deutschen Autoindustrie 600000 Arbeitsplätze gefährden und einen Großteil der Zulieferer ruinieren würde. Aber auch ein «Hinausschieben von Systeminnovationen» hätte nicht weniger katastrophale Folgen.
Ein Dilemma, vor dem auch der Autozulieferer ZF Friedrichshafen steht. Über dem ZF-Werksgelände ziehen schwarze Wolken auf und werfen ihre Schatten auf die Stadt. Wegen des Absatzeinbruchs in der Corona-Krise, so heißt es Ende Mai 2020 in einem Brandbrief von Vorstandschef Wolf-Henning Scheider an die Konzernbeschäftigten, sollen in den kommenden fünf Jahren bis zu 15000 Stellen gestrichen werden. «Aus heutiger Sicht müssen wir bis 2025 weltweit unsere Kapazitäten anpassen und 12000 bis 15000 Arbeitsplätze abbauen, davon etwa die Hälfte in Deutschland.» Dem Konzern, dessen Eigner die Zeppelinstiftung Friedrichshafen ist, drohten «als Folge des Nachfragestopps auf Kundenseite» in diesem Jahr «hohe finanzielle Verluste».
Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Schon zum Jahresende 2019 gab es einen merklichen Auftragsrückgang im Gefolge der allgemeinen Automobilkrise (Dieselgate usw.) und Klimakrise. Der Gewinn des Unternehmens brach in dem Jahr um mehr als die Hälfte ein, er lag vor Steuern bei 540 Millionen Euro.
Da wundert es nicht, wenn der ZF-Vorstand kalte Füße bekommt, muss er doch befürchten, dass die Banken und andere Gläubiger die Kredite kündigen, die ZF Friedrichshafen für die milliardenteuren Zukäufe von TRW vor sechs Jahren und Wabco vor zwei Jahren (fast 6,3 Mrd. Euro) in den letzten Jahren anhäufte.
Er räumt selber ein: «Wenn wir bestimmte Kennzahlen verfehlen, könnten externe Kreditgeber Einfluss auf unsere Geschäftsentscheidungen fordern. Wir möchten das verhindern und weiterhin unabhängig den ZF-Weg gehen.» ZF habe die IG Metall und den Betriebsrat über die geplanten Maßnahmen informiert, Details würden in den kommenden Wochen ausgearbeitet.

Geld ist da – aber wofür?
«All dies ist leider notwendig, um ZF nachhaltig zu sichern, und an die neue wirtschaftliche Realität anzupassen.» Die zur Bewältigung der Corona-Krise getroffenen Vereinbarungen, etwa zu Kurzarbeit und Gehaltsverzicht, reichten bei weitem nicht aus. «Denn die Krise wird länger dauern und wir werden selbst 2022 beim Umsatz spürbar unter unseren Planungen liegen.» Besonders dieser Satz ist eine weitere Klatsche für diejenigen, die erst vor ein paar Monaten den x-ten «Standortsicherungsvertrag» mit den gegenteiligen Versprechungen unterschrieben haben.
Andererseits scheint doch Geld da zu sein. ZF Friedrichshafen muss und kann ein Bußgeld in Höhe von 42,5 Millionen Euro wegen der Manipulation der Abgasreinigung von Dieselfahrzeugen zahlen. Gegen diese von der Staatsanwaltschaft Stuttgart Mitte Juni verhängte Strafe wird ZF keine Rechtsmittel einlegen. Das sagt doch alles.
Die ZF-Beschäftigten werden vorerst gegen die angedrohten Entlassungen ebenfalls keine Rechtsmittel einlegen, sie aber auch nicht widerstandslos hinnehmen. So ohne weiteres lassen sich die meist hoch qualifizierten und erfahrenen «ZFler» nicht über den Tisch ziehen. Dafür steht auch das Ergebnis eines ersten Stimmungsbilds der Belegschaft zum Thema Massenentlassungen.
Die IG Metall Friedrichshafen-Oberschwaben hat dazu eine Online-Blitz-Befragung unter den Beschäftigten der rund 30 deutschen Standorte durchgeführt, 12164 ZFler (von etwa 50000) haben sich beteiligt. «Die Ergebnisse sind eindeutig: «Knapp 90 Prozent der im Unternehmen Beschäftigten machen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz oder den ihrer Kolleginnen und Kollegen.» Sie seien nicht bereit, ihre Arbeitsplätze und die guten Arbeitsbedingungen «kampflos aufzugeben». Protestaktionen soll es noch in der ersten Juliwoche geben. Es wird interessant sein, wie sie im Zeichen der Corona-Einschränkungen ausfallen.

Den Autofirmen hinterher
Die Zahnradfabrik GmbH (ZF) wurde 1915 gegründet und produzierte zunächst Zahnräder und Getriebe für Luftfahrzeuge, Motorwagen und Boote. Heute ist ZF mit über 9000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in der Zeppelinstadt Friedrichshafen.
Mit rund 230 Standorten in 40 Ländern, mehr als 150000 Beschäftigten weltweit und einem Jahresumsatz von über 36 Milliarden Euro (2019) gehört der Automobilzulieferer ZF mit seinen Getrieben, Achsen, Kupplungen und Lenksystemen zu den führenden Herstellern von Antriebs-, Fahrwerk- und Sicherheitstechnik. ZF-Produkte finden sich in Autos, Lastwagen, Bussen, Schiffen und Schienenfahrzeugen.
Das weltweite «ZF-Engagement» ist die logische Folge der engen Symbiose von Autoherstellern und deren Zulieferern. Spezialisten wie ZF übernehmen heute in der Produktion eines Fahrzeugs bis zu 75 Prozent der Wertschöpfung. Nicht nur einzelne Teile, sondern komplette Systeme wie Achsen, Bremsanlagen oder Motorsteuerungen müssen in enger räumlicher und zeitlicher Abstimmung ans Fließband gebracht werden. Es geht da um Stunden, nicht um Tage oder Wochen.
Exportwege wären da meist zu lang. So ist ZF als einer der größten Automobilzulieferer der Welt systemisch gezwungen, den Autobauern überallhin zu folgen.
Das Strickmuster ist immer gleich: Die ZF-Kunden gehen in neue Märkte und nach einer gewissen Zeit ist es aus logistischen oder auch aus Kostengründen notwendig, dass ZF in diesen Märkten eigene Werke aufbaut – in den 50er Jahren in Brasilien, in den 80er Jahren in den USA und seit den 90er Jahren auch in China.
Als VW in den 80er Jahren als erster deutscher Autobauer nach China ging, zog es auch ZF dorthin. VW war in China Türöffner für die gesamte deutsche Zuliefererindustrie. Gründe für Investitionen in neue Auslandsstandorte sind aber auch die Aussicht auf niedrigere Personalkosten und weniger Steuern sowie das Bestreben, keinen neuen chinesischen Wettbewerber hochkommen zu lassen, der morgen in Deutschland, Europa und den USA gegen ZF agieren könnte.
In China lief es für ZF bis zur Coronakrise richtig rund, inzwischen arbeiten dort um die 40 ZF-Werke wieder. Auch die ZF-Expansion nach Osteuropa folgte den Automobilkonzernen, die auch dort hauptsächlich die niedrigen Löhne, Steuern und die unternehmerfreundliche Gesetzgebung schätzen.

Das Spiel mit den Standorten
Für jeden neuen Standort muss nicht nur eine Menge Geld investiert werden, es muss zuvor auch manche Hürde im eigenen Unternehmen überwunden werden. Für die Verlagerung des Baus von Nutzfahrzeuggetrieben von Friedrichshafen ins billigere Ungarn brauchte es, so klagte ein ZF-Oberer, 25 Verhandlungsrunden mit dem Betriebsrat in Friedrichshafen, weil der sich gegen die Verlagerung stemmte.
Der Betriebsrat setzte sich zwar am Ende durch, bezahlte den «Sieg» aber mit Geld aus der Tasche der Beschäftigten, weil er im Gegenzug Einschnitte beim Jubiläumsgeld und bei künftigen Lohnerhöhungen gestattete.
Nicht einmal so ein Pyrrhussieg ist immer möglich. So zogen Belegschaft und Betriebsrat des ZF-Werks Schwäbisch Gmünd im Wettstreit um die Produktion von Lenkungen gegen das ungarische Eger am Ende den kürzeren. Um dort qualifizierte Arbeiter anzuwerben, wurden Schichtbusse und betriebliche Kindergärten eingeführt – Vergünstigungen, die hierzulande dem Rotstift zum Opfer fielen.
Vor kurzem zog ZF mit einem Teil der Produktion in Richtung Belgrad und errichtete im 14 Kilometer entfernte Pancevo für 160 Mio. Euro einen neuen Produktionsstandort. Betriebsrat und Belegschaften in Deutschland waren sauer, sie fürchten, bei der Transformation zur Elektromobilität auf der Strecke zu bleiben. Ende des letzten Jahres demonstrierten allein am Standort Friedrichshafen 5000 KollegInnen, Reden wurden gehalten.
«Vor kurzem hat ZF im serbischen Pancevo ein Werk aus dem Boden gestampft, wo Elektroantriebe hergestellt werden … in einer Region, in der die Arbeitslosigkeit bei etwa 18 Prozent liegt und die Löhne bei einem Bruchteil dessen, was in Deutschland gezahlt werden muss … In Ungarn wurde eine Fabrik hingestellt, wo künftig die neuesten Acht-Gang-Automatikgetriebe montiert werden sollen. Diesen Trend zur Lohnkonkurrenz müssen wir stoppen», sagte der ZF-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Achim Dietrich im Herbst 2020.
Und er fügt hinzu: «Wir stehen jetzt vor einer Phase, in der wir Überkapazitäten haben. Das ist schon eine Phase, wo man fragt: Warum jetzt zusätzliche Werke aufbauen, wo andere Werke nicht ausgelastet sind? Das hat aus unserer Sicht nur einen Grund: ZF geht dorthin, wo es vermeintlich günstiger ist, und sucht die Niedriglohnländer. Das ist natürlich ein Problem für die deutschen Standorte.»

Mit der Karawane nach Osteuropa?
Die nationale Standortlogik teil er mit seinem Gewerkschaftskollegen Roman Zitzelsberger, IG-Metall-Bezirksleiter in Baden-Württemberg: «Wenn es schon zu Beginn dieser Transformation solche Maßnahmen gibt, wie wird es dann erst, wenn es ernst wird? Das ist auch ein Kritikpunkt an verschiedenen Unternehmen, die sagen: Ja, wenn es jetzt die Gelegenheit des Wandels gibt, komm, dann ziehen wir gleich mit dem Teil der Karawane nach Osteuropa.»
Der Mega-Autozulieferer ZF ist also mehrfach zur Konversion gezwungen, wegen seiner schicksalhaften Symbiose mit der Automobilindustrie, aber auch mit der Rüstungsindustrie. Auch die weltweite Klimakatastrophe und die zunehmende Kriegsgefahr lassen keinen anderen Ausweg zu.
Das ist auch dem Konzernbetriebsratsvorsitzenden Achim Dietrich bewusst: «Man geht davon aus, dass sich 70 Prozent der Arbeitsplätze total verändern, nicht mehr vorhanden sind, neue Arbeitsplätze entstehen.» Das wäre zu begrüßen, würde die weniger werdende Arbeit mit der Einführung von einem 4-Stunden-Normalarbeits­­tag auf alle gleich verteilt bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Niemand müsste deshalb die Arbeit verlieren.
Mit dem Recht auf Arbeit ist ein Recht auf Arbeit an vernünftigen, ökosozialen Produkten gemeint, die es den Menschen leichter machen, die großen Menschheitsprobleme zu beseitigen, statt sie zu schaffen. Klar kann dieser Kampf nicht nur von einer Belegschaft nur mit einer Schlacht und an nur einem Ort gewonnen werden. Aber er muss begonnen werden.
Es ist an der Zeit, dass die arbeitenden Menschen nicht nur um die Frage des «Wie produzieren?» kämpfen, sondern dazu übergehen, konsequent die Frage des «Was und für wen produzieren wir?» zu stellen und zu beantworten.

*Der Autor hat Anfang der 80er Jahre bei ZF gearbeitet.

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