Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 08/2020

Auf eine Zigarette
Gespräch mit Kirsten Huckenbeck und Angela Klein

Wir haben uns beide darüber aufgeregt, dass Linke auf die Coronakrise so ignorant reagiert haben. Das reichte von der Teilnahme an oder Inschutznahme der Grundrechtedemos bis zur schlichten Ausblendung der Tatsache, dass die Pandemie eine neue Dimension der Systemkrise des Kapitalismus offengelegt hat.


Für den Lockdown oder dagegen, Gesundheit oder Freiheit?, so hat sich das häufig dargestellt, eine für Linke äußerst unangenehme Entgegensetzung.

Kirsten: Nach meinem Eindruck ist die Debatte um die Corona-Krise in der Linken und unter kritischen Geistern polarisiert. Ein Großteil der Besorgnisse in der linken Corona-Diskussion richtet sich auf den Ausbau des autoritären Staats, festgemacht vor allem an Überwachungs- und Kontrolltechniken und einem Ausbau der Exekutive. Da ist dann die Rede von einem gesundheitlichen Ermächtigungsgesetz, das die Bundesregierung sich geschaffen hat, vom durchsichtigen Bürger und vom Zugriff auf das Private.
Dahinter steht eine ältere Gegenüberstellung – das Verhältnis von Freiheit versus Staat. Hier sind Diskussionen auch in der Linken stecken geblieben oder haben sich wegbewegt von Einsichten, die es ja durchaus schon mal gab.
Daneben gibt es die Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft. Da waren wir auch schon mal weiter. Dass auch Gesundheit ein Teil gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist, scheint vergessen, da dringen die Viren, dringt die Natur in die Gesellschaft ein – einschließlich einer neuen Ehrfurcht vor den sog. Natur-Wissenschaften.
Andere argumentieren zwar mit gesellschaftlicher «Landnahme» als Bedingung für zoonotische Übertragung. Aber beidesmal wird die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft gezogen. Doch was ist ein a-soziales Virus, eine gesellschaftsfreie Wissenschaft?
Zurück zum Verhältnis Staat und Freiheit. Die Corona-Krise ist für die einen Chance und Hoffnung, für die anderen ein Warnhinweis, dass es so nicht weiter gehen kann. Einerseits gibt es die große Hoffnung, dass der Staat im Interesse des Allgemeinwohls die Rolle der Vernunft übernimmt. Der «gute Staat» ist der Staat, der die Masken, Geld für Beatmungsgeräte, medizinische Forschung und die Infrastruktur zur Rettung der BürgerInnen bereitstellt.
Der schlechte Staat ist der Sicherheitsstaat, der alles überwacht und kontrolliert und dabei nur ein Interesse kennt: das System am Laufen zu halten. Beides sind autoritäre Staatsverständnisse, in denen dieser Staat als verselbständigte und selbständige Instanz agiert.
Das gilt auch für die Hoffnung, dass in der Krise die Chance einer sozialökologischen Transformation liegt. Da gibt es jede Menge kluge Vorschläge und Tipps, was man im Gesundheits- oder Verkehrsbereich tun sollte – die enden dann meist mit entsprechenden Appellen an die staatliche Vernunft und an die Leute, die das durchsetzen sollen. Gebraucht wird Gesellschaft da immer nur als Transmissionsriemen für die Durchsetzung politischer Programme, eine eigene Qualität hat sie nicht, die Produktion von Gesellschaft kommt gar nicht vor – und der Staat bleibt, wo er ist: «relativ autonom» draußen.

Angela: Die Polarität, die du beschreibst: auf der einen Seite der autoritäre Sicherheitsstaat, auf der anderen Seite der Staat, der nur die Kapitalinteressen im Auge hat, das ist kein Entweder-Oder. Der bürgerliche Staat hat beide Funktionen, die widersprechen sich aber manchmal. In Deutschland haben wir gesehen, dass die Bundesregierung zwischen beiden Polen laviert hat, andere Staaten neigten deutlicher zu der einen oder der anderen Seite.
Linke haben sich zumeist in dieser Gegenüberstellung bewegt. Ich halte die für falsch, das geht am Kern der Sache vorbei. Jene, die vor allem kritisiert haben, dass die Lockdown-Maßnahmen ihre Freiheit einschränken, ignorieren aus meiner Sicht, dass eine Pandemie das menschliche Verhalten natürlich insofern verändern muss, als ich darauf achten muss, mich selber und andere nicht an­zustecken.
Es gibt durchaus eine Eigenverantwortung in dieser Sache. Darüber geht man gern süffisant hinweg, wenn gesagt wird, die Regierung versucht mich damit zu vereinnahmen – ein solches Element ist darin sicher enthalten, aber nicht nur, denn ich bin tatsächlich dafür verantwortlich, dass ich meine Mitmenschen nicht anstecke. Als Individuum hat meine Freiheit ihre Grenzen am Wohlbefinden und der Freiheit meines Nächsten – das ist eine alte Erkenntnis.
Aber es gibt auch noch eine andere Grenze. In dieser Krise wird erneut deutlich, dass es etwas Größeres gibt als den Menschen, nämlich seine Umwelt. Die Freiheit des Menschen als Gattung findet ihre Grenze in der Bewahrung der Umwelt, weil das unsere Lebensgrundlage ist.
Der Mensch kann diese Grenzen hinausschieben, er kann die Umwelt zerstören, aber in dem Maß, wie er das tut, zerstört er sich selber. Insofern ist es rational, wenn man sagt, die Natur schlägt zurück. Sie sitzt am längeren Hebel.
Dann erhebt sich die Frage, wie gestalte ich die Anerkennung dieser Grenzen? Kann sie nur der Staat durchsetzen oder ist das nicht besser ein Feld für mündiges Verhalten? Das sind zwei Paar Stiefel. Ich plädiere ­dafür, dass die Bevölkerung die Mit­tel an die Hand bekommt, diese Grenzen eigenverantwortlich zu bestimmen und durchzusetzen – also gerade nicht danach zu rufen, dass der Staat sie definiert. Das bringt sie in Gegensatz zum bürgerlichen Staat. Denn der Staat hat Kontrollinteressen, die stärker und anders motiviert sind als die Sorge um die Gesundheit, und er hat das Interesse, dass der Kapitalverwertungsprozess weiter geht.
Dann muss ich die Frage stellen, was brauche ich als mündiger Bürger, um einen Umgang mit Pandemien durchzusetzen, der die Gefahren und das gesellschaftliche Schutzbedürfnis nicht ignoriert, aber auch nicht in autoritäre Strukturen mündet. Das erfordert zunächst einmal, dass wir die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur als eine eigenständige wahrnehmen. Dass sie nicht durch den Rost fällt, weil wir entweder über den Sicherheitsstaat oder über die Wirtschaftskrise diskutieren.
Selbst wenn Linke das Gesundheitssystem thematisieren, diskutieren sie ja häufig nur über dessen ökonomische Seite, die Arbeitsbedingungen, den Lohn usw. Über das Verhältnis des Menschen zu seinen Krankheiten, die auch bedingt sind durch seinen ausbeuterischen Umgang mit der Natur, darüber reden wir kaum.

Kirsten: Die Gestaltung der Grenzen zur Natur ist ein gutes Stichwort. Es gibt, wenn man sich die Umfragen anschaut, politisch im Moment Mehrheiten, die für eine sozialökologische Transformation stehen. Ich habe den Eindruck, dass dabei zum einen oft ein Wir konstruiert wird – wir, die wir alle in einem Boot sitzen, und die dann dieses Verhältnis zur Natur gestalten.
Wenn ich von gesellschaftlichen Naturverhältnissen rede, dann habe ich aber kein Außen mehr, also hier ein Boot, in dem wir alle sitzen, und da die Natur, sondern das, was du vorhin als Zurückschlagen bezeichnet hast, ist selbst produziert. Darüber wäre zu reden: Wie wird Natur, und das heißt: das Verhältnis zu Natur begriffen und produziert?
Die andere Antwort auf dieses Gestaltungsproblem ist eine, mit der sich einige Linke sehr unwohl fühlen: Die Regierung propagiert jetzt Gesundheitsschutz, Solidarität, Eigenverantwortung – dagegen kann man, so heißt es, schwerlich etwas haben. Irgendwie gehen einem die eigenen Positionen flöten, wenn, so scheint’s, die Begriffe enteignet werden.
Manchen ist es unheimlich, dass die Zivilgesellschaft etwas tut, was die Regierung fordert. Aber das ist nur dann unheimlich, wenn man davon ausgeht, dass wir tatsächlich in einem Boot sitzen und dass es so etwas gäbe wie eine Zivilgesellschaft. Allein die Maßnahmen, die die Regierung zur Lösung der Corona-Krise beschlossen hat, sind ein Beleg dafür, dass wir vor Corona nicht alle gleich sind. Es gibt da nicht ein Allgemeinwohl, eine Moral, eine Verantwortung.

Angela: Mir gefiel, dass Merkel sagte, «auf Sie kommt es an». Das ist ja eine Aufwertung, der Bürger wird nicht als Untertan, sondern als handelndes Subjekt angesprochen. Ich finde es fatal, wenn man sagt, das ist ganz schlecht, weil der Staat damit nur vertuscht, dass ich eigentlich doch nur ein Untertan für ihn bin.
Ich würde den Spieß umdrehen: Wenn der Staat mich schon als handelndes Subjekt anspricht, dann möchte ich das auch sein, dann fordere ich von ihm, dass er mich in der Wahrnehmung meiner Eigenverantwortung und meines solidarischen Tuns nicht hindert, sondern unterstützt, da möchte ich keine Bürokratie vor der Nase haben, die mich mit unsinnigen Vorschriften gängelt. Hier fängt die Auseinandersetzung mit dem Staat erst richtig an.
An dieser Stelle kann ich den Begriff der Eigenverantwortung gegen den Staat wenden und zur Selbstermächtigung kommen, was das Moment des zivilen Ungehorsams beinhaltet.
Eine italienische Rechtsphilosophin, die sich viel mit Ökologie und Biopolitik beschäftigt, sagt, in einer solchen Epidemie ist der einzelne nicht nur Opfer, er ist auch Überträger, also auch Täter, ich habe beide Rollen. Wenn das aber so ist, dann kann ich Freiheit nicht nur als individuelle Freiheit buchstabieren, sie spricht von der «individuellen und geteilten Freiheit».
Die Grenzen meines Handelns müssen auch kollektiv definiert werden, das geht aber nur, wenn sie für alle gleichermaßen gelten. Es müssen dann vor der Pandemie wirklich alle gleich sein. Das ist bei uns krass nicht der Fall. Darin liegt dann das Moment der Solidarität – unterein­ander und als eine Behauptung gegen den Staat, der genau diese Gleichheit nicht anerkennt.
Das ist etwas anderes, als die Erklärung der Menschenrechte zu zitieren – die ja immer nur individuelle sind – und das absolute Recht auf Leben zu behaupten.

Kirsten: Ja, die Menschenrechte. Da sind wir bei der alten Kritik von Marx an Feuerbach. Marx sagt, dass die Zirkulation ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte ist – und lässt dann seinen Spott über die Ideale und Ideen der französischen Revolution los: Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Eigennutz. Seine Kritik war ja genau die, die du gerade angesprochen hast: Freiheit als individuelle.
Wenn ich das so denke, habe ich die Freiheit als KonsumentIn in der wunderbaren Welt der Zirkulation und als staatlich geschütztes Privateigentum in der Produktion. Aus dieser Perspektive werde ich in meiner Freiheit eingeschränkt, wenn mir bestimmte Konsumakte und Produktionsentscheidungen nicht mehr möglich sind.
Ich kann das aber umdrehen. Sieht man in dieser Krise nicht auch deutlicher Momente, die über diesen beschränkten Freiheitsbegriff hinausgehen – etwa in der Kooperation, ohne die faktisch keine einzige Ware das Band oder die Verkaufsstätten verlassen würde? Sieht man da nicht Momente einer freien Assoziation, in der der andere die Bedingung der Möglichkeit meiner Entwicklung ist und umgekehrt? An diesen schönen Satz wäre anzuknüpfen.

Kirsten Huckenbeck arbeitet seit 1994 unter und über Tage für den express und lehrt an der FH Frankfurt am Main mit den Schwerpunkten Migration und prekäre Arbeit.
Angela Klein arbeitet seit über 40 Jahren für die SoZ bzw. für eine ihrer Vorgängerzeitungen und kann sich vorstellen, nochmal was Neues aufs Gleis zu bringen.

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