Die Linke und das Thema Gesundheit: Häufig genug eine Pflichtübung
von Slave Cubela
Für eine emanzipative Gesundheitspraxis in Zeiten der globalen Pandemie
Gesundheit ist zumeist erst dann ein Thema, wenn sie akut gefährdet ist. Die Corona-Pandemie stellt eine solche Gefährdung dar und insofern verwundert es nicht, dass COVID-19 das Themenfeld Gesundheit in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses gerückt hat.
Der folgende Text ist ein Versuch, die Aktualität des Themas Gesundheit zu nutzen, indem er Probleme, aber auch Chancen einer emanzipativen Gesundheitspraxis «von unten» auslotet. Nicht zuletzt deshalb, weil das Thema Gesundheit auch in der Linken oftmals unterschätzt bleibt.
«Ungleichheit tötet Menschen in großem Maßstab.» Nein, dieser Satz bezieht sich nicht, wie man vielleicht denken mag, auf die gegenwärtige globale Corona-Krise. Er findet sich vielmehr im 2008 vorgelegten Abschlussbericht der WHO-Kommission zu den sozialen Determinanten der Gesundheit.
Herrschaft als Gesundheitskrise – schon lange vor Corona
Auch wenn dieser Bericht in der breiteren Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag kaum Beachtung gefunden hat, so belegt sein Erscheinungsdatum, dass das öffentliche Gerede, die Corona-Pandemie gefährde alle gleichermaßen, schlicht Unsinn ist, denn Gesundheitsrisiken sind bereits in «normalen» Zeiten sozial ungleich verteilt. Das ist zwar für jede Sozialepidemiologin ein alter Hut, aber gerade für Einsteiger belegt der über 250 Seiten lange Bericht faktenreich eine unbequeme und verleugnete Wahrheit: Herrschaft steigert die Gesundheitsrisiken der Beherrschten!
Um ein paar Aspekte zu benennen: Ein geringeres Einkommen, belastende Wohnverhältnisse, schlechtere Qualität des Essens, entfremdete Arbeitszusammenhänge, körperlich harte Arbeit, ausbleibende persönliche Entwicklungschancen, multifaktorieller Stress, erschwerter Zugang zum Gesundheitswesen, gesellschaftliche Stigmatisierung – diese und einige andere Faktoren führen dazu, dass bürgerliche Herrschaftsverhältnisse sich überproportional in der Erkrankung beherrschter Klassen und Gruppen niederschlagen.
Nur zwei Beispiele: In einem vergleichsweise wohlhabenden Land wie Deutschland besteht ein Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den reichsten und ärmsten Bevölkerungsgruppen von etwa zehn Jahren. In den USA wiederum sinkt die durchschnittliche Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung seit 2016. Hauptursache dieser Entwicklung ist der rasant ansteigende «Tod aus Verzweiflung», also die Zunahme von Opioidopfern, Alkoholismustoten und Suiziden in den ärmsten US-Schichten.
Wenn also die endgültige Geschichte der Corona-Krise noch lange nicht geschrieben ist: Wird es irgendjemanden überraschen, wenn die Armen den größten Todeszoll gezahlt haben sollten? Nein, es wäre vielmehr, sozialmedizinisch betrachtet, nur folgerichtig.
Der Körper als unbestechliches Herrschaftsgedächtnis
Die Beschäftigtenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) findet alle vier Jahre mit einem entsprechend der Sozialstruktur der BRD zusammengestellten Pool von etwas mehr als 20000 Befragten statt.
Wirft man einen Blick auf die 2018er-Befragung, dann scheint es um die deutsche Arbeitswelt vor der Corona-Krise geradezu phantastisch bestellt gewesen zu sein. 90,7 Prozent der Befragten sind nämlich entweder zufrieden oder sogar sehr zufrieden mit ihrer Arbeit insgesamt, 92,4 Prozent mit Art und Inhalt ihrer Tätigkeit, 88,5 Prozent mit ihrer beruflichen Position, 88,4 Prozent mit den Möglichkeiten ihre Fähigkeiten einzubringen, 84,6 Prozent mit dem Betriebsklima, 82,9 Prozent mit ihrem Vorgesetzten, 81,2 Prozent mit ihren körperlichen Arbeitsbedingungen, 80,7 Prozent mit ihrer derzeitigen Arbeitszeit und immer noch 73,8 Prozent sind (sehr) zufrieden mit dem Einkommen.
Man könnte als kritischer Geist versucht sein, diese Resultate anzuzweifeln, den Machern der Studie sogar Unredlichkeit unterstellen, wenn, ja wenn in der gleichen Studie nicht auch andere Ergebnisse zu finden wären.
Denn auf die Frage: «Sagen Sie mir bitte, ob die folgenden gesundheitlichen Beschwerden bei Ihnen in den letzten zwölf Monaten während der Arbeit bzw. an Arbeitstagen aufgetreten sind; uns interessieren die Beschwerden, die häufig vorkamen», kommt es zu folgenden Resultaten:
49,5 Prozent klagen über häufige Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich, 47,8 Prozent über allgemeine Müdigkeit, Mattigkeit oder Erschöpfung, 46,2 Prozent über Schmerzen im unteren Rücken sowie Kreuzschmerzen, 35,5 Prozent über körperliche Erschöpfung, 33,6 Prozent über Kopfschmerzen, 29,5 Prozent über nächtliche Schlafstörungen und 25,9 Prozent klagen über häufige emotionale Erschöpfung.
Diese tiefe Zerrissenheit zwischen der subjektiven Wahrnehmung der deutschen Arbeitswelt und den mannigfachen körperlichen Folgen derselben mag zunächst überraschen. Aus sozialmedizinischer Sicht betrachtet, enthält dieser scheinbare Widerspruch zwei wichtige Implikationen für eine linke Gesundheits- bzw. Biopolitik:
Erstens: Wenn der Körper wie bei der Sozialepidemiologin Nancy Krieger (2005) als psycho-physische Einheit begriffen wird, dann hinterlassen alle individuell-sozialen Praxen, ob man will oder nicht, anhaltende Spuren in ihm. Viel unbestechlicher als das Bewusstsein speichert der Körper die diversen sozialen Erfahrungen des Subjekts.
Zweitens: Wenn der Körper ein soziales Herrschaftsgedächtnis darstellt, dann ist es für Widerstandspraxen notwendig, dass die Individuen einen sozial-reflexiven Zugang zu diesem persönlichen Erfahrungsreservoir finden. Gelingt dies nicht, dann erscheint der Widerstand des Körpers dem Betroffenen lediglich als Krankheit mit natürlichen Ursachen.
Medizin als asymmetrisches Machtverhältnis…
Werden Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft krank, dann passiert zweierlei mit ihnen. Erstens wirft die Krankheit den Kranken auf sich selber zurück, d.h. Krankheit wird zunächst als ausschließlich individuelles Schicksal wahrgenommen. Zweitens haben die erkrankten Individuen im besten Fall Zugang zu einem Gesundheitssystem, in dem ausgebildete Fachkräfte vor dem Hintergrund eines «objektiv»-naturwissenschaftlichen Wissenskanons eine Diagnose stellen und eine Heilbehandlung verordnen.
Das ist uns dermaßen vertraut, dass wir dabei gerne übersehen, dass der übliche Gesundungsprozess in einem asymmetrischen Machtverhältnis erfolgt. Auf der einen Seite steht ein bedrängtes Individuum, das vielleicht eine ungefähre Ahnung hat, warum es krank geworden ist, und das eine schnelle Linderung für sein Leid sucht. Auf der anderen Seite stehen gesellschaftlich anerkannte ExpertInnen, die über einen naturwissenschaftlich-medizinischen Wissensvorsprung verfügen und dem Individuum erklären, warum es krank geworden ist – aber auch, was es tun muss, um gesund zu werden.
Auch wenn ich dieses Machtverhältnis hier womöglich überzeichne, da z.B. viele Mediziner das betroffene Individuum durch Gespräche mit einbeziehen, ändert dies nichts an dem wesentlichen Aspekt dieses Verhältnisses: Den reflexiven Zugang zum Körper des Individuums dominieren die gesellschaftlich anerkannten ExpertInnen, sie haben weit überwiegend das letzte Wort, Krankheit scheint vor allem organische Ursachen zu haben.
…und revolutionäre Utopie
Wie könnte nun ein anderes Modell als das der Expertenmedizin aussehen? Einfach gesprochen könnte Medizin auch ein demokratischer Prozess sein. Der würde neben anderem beinhalten:
– die Ausbildung und den Einsatz gesellschaftswissenschaftlich geschulter und demokratisch orientierter ÄrztInnen und Care-Worker;
– den kollektiven Austausch von Kranken untereinander;
– die Integration der Wahrnehmung des Kranken in den Anamnese- und Gesundungsprozess;
– eine konsequente Präventionspolitik, die soziale Konflikte nicht scheut;
– genügend Zeit für die Kranken, um den Gesundungsprozess in Ruhe vollziehen zu können;
– ermutigende Perspektiven für das Individuum nach dem Gesundungsprozess, die sicherstellen, dass es nicht wieder in krankmachende Verhältnisse zurückkehren muss.
Manche dieser Punkte finden heute schon in der medizinischen Praxis zumindest ansatzweise Beachtung. Zusammengenommen jedoch machen sie deutlich, dass Medizin als demokratischer Prozess eine revolutionäre Utopie ist.
Insofern wundert es kaum, dass die WHO-Kommission zu den sozialen Determinanten der Gesundheit ihren Bericht mit dem vielsagenden Hinweis versah: «Es war jenseits des Auftrags und der Kompetenz der Kommission, eine neue internationale ökonomische Ordnung zu entwerfen, die eine Balance findet zwischen den Bedürfnissen der gesamten Weltbevölkerung nach sozialer und ökonomischer Entwicklung, gesundheitlicher Gerechtigkeit und der Dringlichkeit, auf den Klimawandel zu reagieren.»
Die Linke und das Thema Gesundheit: Häufig genug eine Pflichtübung
Damit die revolutionäre Utopie einer Medizin als demokratischem Prozess eine Chance auf Verwirklichung hat, muss dem Themenfeld Gesundheit auch in der Linken deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Bislang war es zumeist so: Selbstverständlich stimmt jeder integre Linke sofort zu, wenn es um die Frage geht, ob Gesundheit für jeden eine wichtige Zielsetzung ist, ob ein kostenloses und gut finanziertes Gesundheitswesen erstrebenswert ist, zu dem angemessen bezahlte ÄrztInnen und PflegerInnen mit geregelten Arbeitszeiten gehören. Doch so selbstverständlich diese Forderungen scheinen, so sehr stellen sie häufig genug eine Pflichtübung dar.
Wann hat die Linke einmal ein gesundheitliches Thema aufgegriffen, um damit eine breite gesellschaftliche Bewegung zu initiieren? Wo sind Gewerkschaften zu finden, für die Gesundheit ein mindestens ebenso wichtiges Themenfeld wie Lohn und Arbeitszeit ist?
Man muss allerdings hinzufügen: Es ist keineswegs ausschließlich die Schuld der Linken, dass sie Gesundheit als Mobilisierungsfeld eher stiefmütterlich behandelt, die Sache ist vertrackter. Eine linke Gesundheitspraxis ist auch deshalb schwer zu etablieren, weil Krankheit und Leid keine einfach zu politisierenden Phänomene sind.
Wenn wir am Beispiel der Beschäftigtenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) sehen konnten, dass die Individuen nur schwer einen sozial-reflexiven Zugang zum persönlichen Erfahrungsreservoir ihres Körpers finden, dann hat dies neben dem naturwissenschaftlichen Blick der Normalmedizin eine ganze Reihe weiterer Gründe.
Die eigene Gesundheit ist beispielsweise ein heikles Gesprächsthema, da die Kenntnis entsprechender Probleme den Arbeitgeber auf die Idee bringen könnte, die eigene Entlassung zu forcieren. Die Anerkennung der Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit kann zudem psychische Konsequenzen für das Individuum nach sich ziehen, denn schließlich kann es mit diesem Eingeständnis auch zu einer destabilisierenden Ich-Kränkung kommen.
Schließlich ist die neoliberale Gesellschaft durchzogen von ideologischen Gesundheitsnarrativen, die den Erhalt der Leistungsfähigkeit zur Aufgabe eines jeden Individuums erklären und den Schluss nahelegen, dass Erkrankungen auf ein charakterliches Versagen des Individuums schließen lassen, insofern dieses mit der Krankheit seiner Selbstverantwortung ja nicht nachgekommen ist.
Man könnte jetzt einwerfen, dass die Corona-Krise und die sich am Horizont abzeichnenden, anderen sozioökologischen Krisen diese blinden Flecken beim Thema Gesundheit verändern werden. Doch selbst wenn dies wahrscheinlich ist, so kann die Linke nicht einfach abwarten.
Einerseits ist das Zerstörungspotential dieser Krisen schwer abzusehen, die nächste Pandemie könnte etwa wie das Ebola-Virus deutlich tödlicher und aggressiver verlaufen als COVID-19. Andererseits sollte die Linke lieber früher als später Erfahrungswerte in Sachen Gesundheits- und Körperpolitik aufbauen, denn die Pflichtübung auf dem Themenfeld Gesundheit hat Spuren hinterlassen, es gibt also einen gewissen Aufholbedarf.
Jede linke Gesundheits- und Körperpolitik steht nach dem bisher Umrissenen vor folgendem Dilemma: Auf der einen Seite ist ihr bewusst, dass die sozialen Herrschaftsverhältnisse ihren prägendsten Ausdruck im Körper der Individuen hinterlassen. Auf der anderen Seite werden die meisten Individuen ihre Leiden kleinreden und eine ganze Reihe von Erklärungen und Rechtfertigungen anführen, die zu den oben genannten Befunden führen – dass es ihnen trotz allem gut geht, dass sie ihre Arbeit mögen, dass die Krankheit organische, genetische, medizinische Ursachen haben müsse etc.
Den Körper zum Sprechen bringen
Wie also macht man etwas zum linken Thema, was Individuen in «normalen» gesellschaftlichen Zeiten nicht zum Thema machen wollen? Wie kann man den Körper zum Sprechen bringen, wenn er ideologisch zugedeckt ist?
Ein erstes Beispiel findet sich im sog. Körper-Mapping, das beispielsweise in der Gewerkschaftsarbeit und im Community Organizing eingesetzt wird. Anhand einer großen doppelten Zeichnung der Körpervorder- und der Körperrückseite wird eine Gruppe von Menschen (z.B. Beschäftigte, Geflüchtete, BewohnerInnen eines bestimmten Viertels), die zusammen leben oder arbeiten, gebeten, mit Punkten jene Stellen des Körpers zu markieren, an denen sie Schmerzen haben.
Zudem gibt es die Möglichkeit, psychosoziale Probleme durch Punkte in einer Wolke über den beiden Körpersilhouetten zu kennzeichnen. Wenn die TeilnehmerInnen fertig sind, fragt man sie zunächst, ob die gemeinsame Bepunktung auf den Körperzeichnungen irgendeine Auffälligkeit hat und was diese Auffälligkeit ihrer Ansicht nach bedeuten könnte. Dann bittet man in einer zweiten Runde jeden Anwesenden, seine Punktsetzungen zu erläutern und gerne auch mögliche Ursachen der eigenen Gesundheitsprobleme zu diskutieren.
Ohne Zweifel braucht es hierbei ein gewisses Vertrauen in der Runde der Anwesenden, aber das Ergebnis ist erstaunlich. Die Anwesenden merken mit Blick auf die Körperkarten meist schnell, dass sie mit «ihren» Krankheitszonen keineswegs alleine stehen. Diese Erkenntnis sorgt verständlicherweise oft für Zorn, macht aber auch die Bedeutung der sie umgebenden sozialen Verhältnisse für ihre Krankheit deutlich.
Außerdem kommt es in der Folge oft zu sehr intensiven, persönlich-politischen Gesprächen, die bei vielen einzelnen Anwesenden lange nachhallen, die aber auch den Gruppenzusammenhalt stärken, also den Ausgangspunkt für kollektiven Widerstand bilden können.
Zeigt das Körper-Mapping eindrucksvoll, wie man Individuen einen Zugang zu ihrem Körper verschaffen kann, ohne suggestiv zu agieren, dann zeigt das Beispiel der italienischen Arbeitermedizin, wie man das Themenfeld Gesundheit zur Massenmobilisierung nutzen kann.
Ausgangspunkt waren dabei die unbarmherzigen Arbeitsverhältnisse der Wirtschaftswunderzeit nach 1945. Während jedoch die Forderung nach Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz einem in Deutschland schnell den Vorwurf einbringen konnte, ein «Industriefeind» oder «Arbeitsplatzvernichter» zu sein, führten ähnlich schlechte Arbeitsverhältnisse in Italien in den 60er Jahren zu einer «Kulturrevolution im Problemfeld Fabrik und Gesundheit» (Wintersberger, Arbeitermedizin in Italien, 1988).
Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Umfrage einer Arbeitsgruppe für soziale Sicherheit der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) unter der Leitung des Sozialmediziners Giovanni Berlinguer. Die Besonderheit dieser Befragung, die in 225 Betrieben durch die Betriebsgruppen der PCI durchgeführt wurde, bestand darin, dass die Fragebögen nicht individuell ausgefüllt wurden, sondern kollektiv, d.?h. die Beschäftigten mussten als Arbeitsplatzgruppen ein gemeinsames Bild ihrer Arbeitsbedingungen zeichnen.
Dieser geschickte Anstoß von außen führte nicht nur zu intensiven Debatten zwischen den ArbeiterInnen, er förderte neben den schlechten Arbeitsbedingungen auch eine große Unzufriedenheit zutage, die, wie ein PCI-Funktionär feststellte, «wir bis jetzt nicht in politisches Bewusstsein umzusetzen imstande waren».
Um dieses Defizit zu beheben, entschloss sich die PCI zu zwei Schritten: Zum einen ging sie ein gesundheitspolitisches Bündnis mit den christlichen und sozialistischen Gewerkschaften ein, um dem Themenfeld «Gesunde Arbeit» eine breite gesellschaftliche Akzeptanz zu sichern.
Zum zweiten machte dieses Gewerkschaftsbündnis einen erstaunlichen Schritt: Es verzichtete auf seine Stellvertreterfunktion, um stattdessen die ArbeiterInnen selber in den Mittelpunkt des betrieblichen Gesundheitsschutzes zu stellen. Dabei spielte nicht nur die strategische Überlegung eine Rolle, dass jede Kampagne eine Basisverankerung braucht, wenn sie lebendig sein will. Wichtiger noch war die sozialmedizinische Erkenntnis, dass ein wirksamer Gesundheitsschutz nur durch den kontinuierlichen Einbezug der Beschäftigten als ExpertInnen des alltäglichen Arbeitsprozesses sichergestellt werden kann.
Das Ergebnis dieser Bewegung waren in der Folgezeit nicht nur Gesetzesinitiativen und eine ganze Reihe tarifvertraglicher Regelungen. Weitaus bemerkenswerter war eine tiefgreifende Verhaltensänderung der ArbeiterInnen selbst, die Wintersberger wie folgt charakterisiert: «‹Homogene Arbeitergruppen›, die nicht durch subjektive Willenserklärung, sondern aufgrund der tayloristischen Arbeitsorganisation in den Industriebetrieben der 60er Jahre entstanden waren, nehmen die Verteidigung der Gesundheit am Arbeitsplatz selbst in die Hand. Sie weigern sich, diese wichtige Frage – wie in der Vergangenheit – an Unternehmer, staatliche Organe, Betriebsärzte oder auch Gewerkschaften zu delegieren. Sie bestehen darauf, dass die subjektive Bewertung der Arbeitsumwelt durch die Gruppe mindestens ebenso aussagekräftig ist wie traditionelles Expertenwissen.»
Mit diesen beiden Beispielen sollte deutlich geworden sein, dass es interessante Herangehensweisen gibt, um Individuen trotz verschiedener gesellschaftlicher Blockaden den Zugang zu ihrem Körper zu erleichtern und damit linke Widerstandspraxen «von unten» zu initiieren. Zwar handelt es sich keineswegs um Patentrezepte, die man schematisch anwenden kann. Aber im Zeitalter eines sozioökologischen Krisenkapitalismus sind dies wertvolle Anknüpfungspunkte – nicht zuletzt auch deshalb, weil der reflexive Zugang zum eigenen Leid über kurz oder lang auch eine Sensibilisierung und Politisierung des Umweltbewusstseins nach sich zieht.
Der Autor schreibt seit 2002 für den express und ist «nebenbei» bei einer großen deutschen Gewerkschaft beschäftigt.
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