Die Gewerkschaften haben wenig Grund, in den nächsten Monaten stillzuhalten
von Violetta Bock und Stefan Schoppengerd
Während aus anderen Ländern von Streiks gegen die Maloche unter Corona-Risiken zu lesen war, wurde in Deutschland nichts Vergleichbares bekannt. Ohnehin bleibt die deutsche Gewerkschaftspolitik durch die Tariftaktung bestimmt. Seit März war stillhalten angesagt.
Regiert in der kommenden Wirtschaftskrise die Angst um den Standort Deutschland? Oder kommt der Aufstand der «Systemrelevanten»? Für die Gewerkschaften geht es auch um ihre Glaubwürdigkeit.
Essen, Dienen, Schlachten
Zum Jahreswechsel ist ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie angekündigt. Damit wird eine Forderung umgesetzt, die nicht zuletzt von der Gewerkschaft NGG seit Jahren erhoben wird, um die Überausbeutung osteuropäischer WanderarbeiterInnen zu stoppen. In der schwer organisierbaren Branche war die NGG nie in der Lage, das aus eigener Kraft durchzusetzen. Es brauchte erst mehrere COVID-19-Masseninfektionen, um beim SPD-Arbeitsminister Gehör zu finden. Die NGG will jetzt im Blick behalten, ob die Ankündigung auch verlustfrei durch den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess geht. Die jüngste Eskalation bei Tönnies dürfte das erleichtern.
Nicht vom Weiterbetrieb, sondern von Corona-Eindämmungsmaßnahmen schwer getroffen ist das Hotel- und Gaststättengewerbe. Mit seinen kleinteiligen Betriebsstrukturen und einem unterdurchschnittlichen Lohnniveau weist es viele Unternehmen auf, bei denen eine drohende Pleite keine leere Behauptung der BesitzerInnen ist. Die Gewerkschaft setzt auf Staatshilfen, fordert aber, dass sie an ein Verbot von Stellenabbau gekoppelt sein sollen.
In der industriellen Ernährungswirtschaft geht es offensiver zu. Die Lebensmittelherstellung hat keine Corona-Pause gesehen; pausiert wurde aber in der Tarifrunde der Ernährungswirtschaft Ost. Mit ganztägigen Streiks in mehreren sächsischen Werken hat die NGG diese Pause am 17.?Juni, dem Jahrestag der Arbeiterproteste in der DDR, beendet und zu einer Kundgebung in Dresden aufgerufen. Es geht um die Flächentarife in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Gewerkschaft fordert die Anhebung der untersten Lohngruppe auf 12 Euro pro Stunde und (nach 30 Jahren) die Angleichung der Löhne ans Westniveau.
Bauen und Putzen
Homeoffice oder Pause gab es auf dem Bau oder auch im Reinigungsgewerbe zu keiner Zeit. Warum sollte also die Tarifpolitik eine Pause einlegen? Pünktlich zu Beginn der Tarifrunde, und nach Monaten des Baubooms, erklärte der Arbeitgeberverband, dass man ja nun mit Einbrüchen rechnen müsse. Die IG Bau fordert unbeirrt 6,8 Prozent mehr Lohn und legt in diesem Jahr den Schwerpunkt auf die Forderung nach einem Wegegeld zur Baustelle. Nun wird die Schlichtung einberufen, bei Scheitern endet die Friedenspflicht.
Die Gebäudereinigung ist an vorderster Front. Auch aus Krankenhäusern wurden eklatante Verstöße gegen Hygienebestimmungen gemeldet. Beifall klatschen bezahlt weder Einkauf noch Miete: Auch hier fordern die Beschäftigten 12 Euro Mindestlohn. Daneben ist die Situation der ErntehelferInnen eines der Hauptthemen, ähnlich wie bei der NGG und den osteuropäischen WanderarbeiterInnen.
Erziehen und Erklären
Die weitreichenden Einschränkungen des Schulbetriebs wurden gegen Ende des Schuljahrs teilweise zurückgenommen. Hauptsorge der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist, dass der Gesundheitsschutz der Beschäftigten unter die Räder kommt, wenn es vorrangig um die Notwendigkeit der Kinderbetreuung geht. Außerdem sind viele Schulen bekanntermaßen in einem schlechten baulichen Zustand, das betrifft auch die hygienischen Bedingungen. Mit Blick auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen zeigt die Pandemie sich als großer Digitalisierungsschub, in dem beeindruckende Möglichkeiten auf infrastrukturelle Mängel und die Begehrlichkeiten großer Digitalkonzerne treffen, die SchülerInnen und Lehrkräfte gern zu Anhängseln der Algorithmen machen würden.
Tarifpolitisch steht für die GEW die Auseinandersetzung in den Kommunen an, d.h. auch: in den Kitas. Wie bei fast allen Auseinandersetzungen mit den Kommunen muss ein Tarifkonflikt in der öffentlichen Kinderbetreuung von vornherein politisch geführt werden, weil nicht mit Produktionsausfällen gedroht werden kann. Nach Wochen erzwungener Schließung ist das schwer. Vergangene Tarifrunden haben aber gezeigt, dass hier gewerkschaftliches Wachstum im öffentlichen Dienst möglich ist – ein Potenzial, das auch Gegenstand der Konkurrenz von Ver.di und GEW ist. Dem Vernehmen nach gestaltet sich die Kooperation zwischen den beiden im Kita-Bereich alles andere als geschmeidig.
Fahren, Pflegen und Verkaufen
Bei Ver.di arbeiten viele Mitglieder in nun offiziell als systemrelevant gekürten Berufen. Hier besteht zumindest Potenzial für einen kämpferischen Herbst. Erstmal jedoch war für die Tarifrunde Nahverkehr Pause angesagt. Ver.di hatte sich seit Jahren darauf vorbereitet, dass die Tarifverträge mit den kommunalen Verkehrsbetrieben zeitgleich auslaufen, und die Zusammenarbeit mit Fridays for Future gesucht. Linke Gruppen wollten hier Klassen- und Klimafragen verbinden. Nun könnte es auch hier im September (also gleichzeitig mit dem öffentlichen Dienst!) losgehen. Am 1.September ist erster Verhandlungstag. Bis Oktober, November könnte es zu Streiks kommen. Es geht um Arbeitsbedingungen und Löhne, aber auch grundsätzlich darum, krisenbedingte Einsparungen im öffentlichen Bereich abzuwehren.
In der Pflege haben organisierte Kerne von Anfang an Forderungen gestellt und sich organisiert. Bundesweites Zugpferd ist erneut das Berliner Bündnis, das mit der geschickten Nutzung virtueller Formate für Ver.di beispielgebend war. Für September ist bundesweit ein deutliches Zeichen aus den Krankenhäusern geplant: Klatschen reicht nicht, es braucht strukturelle Änderungen, die Fallpauschalen müssen weg. Hier gelingt es also, die Krise für offensive Forderungen zu nutzen.
Anders im Handel. Der Fachbereich scheint vor allem mit dem Arbeitsplatzabbau bei Karstadt und Galeria Kaufhof beschäftigt. Der filialisierte Einzelhandel ist ohnehin schwer zu organisieren. Wichtigste Forderung wäre die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge. Amazon hingegen hat die Gunst der Stunde genutzt und Päckchen in Rekordmengen verschickt. Nun ist der nächste Standort von Corona betroffen.
Metall verarbeiten, Autos bauen
Im Organisationsbereich der IG Metall standen Tausende Arbeitsplätze schon vor Corona auf der Kippe. Die Wirtschaftskrise schlägt in diesem Sektor längst zu. Die IG Metall war die erste Gewerkschaft in Deutschland, die gleich zu Beginn von Corona verkündete, die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie bis Jahresende auszusetzen. Dann wollte sie vor allem eins: die Autoprämie. Doch die kam nicht wie gewünscht.
Gleichzeitig zeigte die IG Metall als erstes, wie trotz Corona gestreikt wird. Die KollegInnen in Voith streikten fast fünf Wochen lang für einen Sozialtarifvertrag. Warnstreiks und offene Auseinandersetzungen gab es auch beim Automobilzulieferer Wirthwein, beim Verpackungshersteller Müller und Bauer und beim Einkaufswagenhersteller Wanzl. Bei letzterem gibt es nun nach zwei Jahren schließlich einen Tarifvertrag.
Prekäre Arbeitssituationen, vor allem von Frauen und MigrantInnen, waren in den letzten Wochen mehr Thema als sonst. Die Demos von Black Lives Matter waren vielleicht auch deshalb so groß, weil die täglichen Ungerechtigkeiten in den letzten Monaten noch deutlicher geworden sind. Wenn Gewerkschaften nun wie in der letzten Krise allzu schnell klein beigeben, riskieren sie ihre Glaubwürdigkeit. Denn wofür sind sie da? Zur Verbesserung der Situation der Lohnabhängigen auf Kosten der Reichen.
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