Feindschaft gegenüber den arbeitenden Klassen
von Ingo Schmidt
Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds wird sich das Staatsdefizit der reichen Länder am Ende dieses Jahres auf 17 Prozent ihres gemeinsamen Bruttoinlandsprodukts (BIP) belaufen.
Während des Corona-Lockdown im Frühjahr hat die US-Zentralbank die Geldmenge durch den Kauf von Unternehmens- und Staatsanleihen um 2,9 Billionen Dollar ausgedehnt. Die EZB hat im selben Zeitraum «nur» 750 Mrd. Euro in den Geldkreislauf gepumpt, plant aber bis Juni 2021 Wertpapiere für insgesamt 1,35 Billionen Euro zu kaufen. Das sind rund 10 Prozent des Vorkrisen-BIP.
Moderne Monetäre Theorie und Staatsinterventionismus
Die Anhänger der Modernen Monetären Theorie, so scheint es, haben sich durchgesetzt. Deren Ideen entsprechen im wesentlichen denen, die John Maynard Keynes während der Depression der 1930er Jahre in wirtschaftspolitischen Kreisen zu verbreiten suchte. Einem scharfen Konjunktureinbruch, der in dauerhafte Stagnation umzuschlagen droht oder bereits umgeschlagen ist, soll demnach solange durch Ausweitung von Staatsausgaben und Geldmenge gegengesteuert werden, bis auch noch der letzte Arbeitslose einen Job gefunden und die letzte in einer Ecke des Betriebs Staub sammelnde Maschine wieder in Betrieb genommen ist.
Unter neuem Namen fanden solche Überlegungen während der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 Eingang in den Mainstream wirtschaftspolitischer Debatten, konnten sich aber nur bedingt durchsetzen: Die Fiskalpolitik schaltete in vielen Ländern nach einem kurzen Moment der Expansion wieder auf Sparkurs, die Geldpolitik blieb aber weiter mehr als locker.
Danach bemühten Bernie Sanders und Jeremy Corbyn die Moderne Monetäre Theorie, um ihren sozialpolitischen Plänen ökonomische Kohärenz und wissenschaftliches Ansehen zu verleihen. Die von ihnen erhofften Wahlerfolge sind ausgeblieben, dafür ist die Theorie seit Ausbruch der Corona-Krise in der wirtschaftspolitischen Praxis angekommen.
Die Anleihekäufe
Anleihekäufe durch die Zentralbank führen nicht nur zu einer Erhöhung der Geldmenge, sprich: günstigen Finanzierungsbedingungen für Investoren und Konsumenten, sie finanzieren auch zusätzliche Staatsausgaben und Unternehmen ganz direkt. Nach neoliberaler Auffassung ist das ein wettbewerbsverzerrender Eingriff in das Marktgeschehen – selbst wenn Vertreter des Staates nicht an einer Unternehmensführung beteiligt sind.
Mit Blick auf die von der EU beschlossenen 750 Milliarden Euro Corona-Hilfen sah sich Bundesbankpräsident Jens Weidmann zu der Aussage genötigt‚ «der Staat [sei] nicht der bessere Unternehmer», privaten Unternehmen dürfe und brauche man nicht reinreden. Jahrzehntelang war diese Meinung weit verbreitet und mit der Hoffnung verknüpft, von staatlicher Gängelung befreite Unternehmerinitiative werde Wohlstand für alle schaffen. Daran glaubt heute nur noch ein harter Kern von Marktfundamentalisten wie Weidmann. Dafür steht mit Donald Trump ein erfolgreich praktizierender Unternehmer an der Spitze der arg gerupften Führungsmacht der selbsternannten freien Welt. Mit dem neoliberalen Grundsatz, dass der Staat eine für alle, einschließlich der reichsten Unternehmer, geltende Eigentums- und Rechtsordnung durchsetzen solle, kann Trump so gar nichts anfangen. Als Immobilienunternehmer hat er gelernt, Beziehungen zur lokalen Politik in Gewinne umzumünzen, und so regiert er auch als Präsident.
Damit wird er zum Vorreiter eines staatskapitalistischen Umbaus des neoliberalen Kapitalismus im Westen. Politikstrategen im Westen schwanken seit Jahren zwischen scharfer Kritik an Chinas Staatskapitalismus, mit dessen Hilfe sich das Land angeblich Wettbewerbsvorteile zulasten des an die Marktregeln gebundenen Westens verschaffe, und der Frage, ob sie nicht dem chinesischen Vorbild folgen sollten.
Die Wirtschaftskrisen seit Beginn der Jahrhundertwende haben zu einigen, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Schritten in diese Richtung geführt. Der Übergang zur Westausgabe des Staatskapitalismus verläuft in Schüben, Elemente dieses Kapitalismus neuen Typs überlagern sich mit Resten des seit den 80er Jahren institutionalisierten Neoliberalismus. Dadurch wird der Kapitalismus in seiner Gesamtheit zerbrechlicher. Institutionen und Ideologien weisen Bruchstellen auf, an denen sozialistische Politik ansetzen kann.
Die sichtbare Hand des Marktes
Um Missverständnissen vorzubeugen. Unternehmer haben sich – marktpopulistischer Propaganda zum Trotz – zu Beginn der 80er Jahre nicht aus der Umklammerung durch Gewerkschaften, Sozialstaatsbürokraten und sozialen Bewegungen befreit, um ungestört ihrem Investitions- und Innovationsdrang nachgehen zu können. Vielmehr eroberten sie bzw. ihre politischen Stellvertreter die Schaltstellen des Staates, um eine Umverteilung mit umgekehrten Vorzeichen durchzusetzen. Sozialversicherungen, Gesundheits-, Erziehungs- und Bauministerien, die in den vorangegangenen Jahrzehnten breiten Bevölkerungskreisen Zugang zu öffentlichen Diensten und halbwegs gesicherten Einkommen im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter eröffnet hatten, wurden von Finanzministern und Zentralbanken in permanente Geldnot getrieben und so zu Kürzungen an allen Ecken und Enden gezwungen.
Die Betroffenen waren selten begeistert, gaben ihre Stimme bei den nächsten Wahlen aber trotzdem in großer Zahl Parteien, die stabile Preise und Finanzen versprachen. Nur sehr wenige konnten oder wollten sich vorstellen, dass der Sozialstaat vorsätzlich gegen die Wand gefahren wurde. An Geld zur Fortführung oder sogar einem Ausbau des Sozialstaats hat es nicht gemangelt, es hätte aber über höhere Steuern von Unternehmen und reichen Haushalten eingetrieben werden müssen. Um dieses zu verhindern, förderten Letztgenannte eine Politik des Kaputtsparens.
Besserverdiener, zu Leistungsträger hochstilisiert, haben sich zunehmend privaten Ärzten, Schulen, Kulturangeboten und Versicherungen zugewandt. Im Gegenzug suchen sie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu vermeiden. Ein asoziales Verhalten, dass sie auf die schlecht Betuchten projizieren, deren Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen als Sozialschmarotzertum diffamiert wird. Die so Gescholtenen haben sich immer mehr aus dem politischen Geschehen zurückgezogen. Sie sehen sich dort nicht mehr vertreten und glauben vielfach selbst an die Notwendigkeit von Haushaltssanierung und stabilen Preisen. Besser als andere wissen sie, dass man nicht dauernd mehr ausgeben kann, als man in der Tasche hat, und dass steigende Preise zu weiteren Einschränkungen zwingen. Steuervermeidung bei den oberen, Sozialstaatsabhängigkeit bei den unteren Einkommensschichten haben die arbeitenden Klassen so sehr untereinander entfremdet, dass die zunehmende Polarisierung zwischen den Reichen und Mächtigen und dem Rest kaum wahrgenommen wurde. Je mehr an die abstrakte Macht des Marktes geglaubt wird, umso weniger sind die wirklich Reichen greif- oder gar angreifbar.
Die (fast) unsichtbare Hand des Staates
Wiederkehrende Finanz- und Wirtschaftskrisen haben die Hoffnung zerstört, Märkte würden Initiative und Arbeit eines jeden nach seinen oder ihren Anstrengungen entlohnen. Sozialisierung von Unternehmensverlusten und Sparpolitik für die arbeitenden Klassen haben zu verletztem Gerechtigkeitsempfinden und Unsicherheit geführt. Die in Einkommens- und Vermögensstatistik so klar zutage tretende Polarisierung zwischen den wenigen Reichen und den mehr werdenden Armen wird jedoch nicht als Folge ökonomischer Ausbeutung und politisch betriebener Umverteilung von unten nach oben wahrgenommen. Der Abfall vom Marktglauben führt stattdessen zur Behauptung kultureller, wenn nicht gar genetischer Höherwertigkeit, zur kulturellen Abwertung als fremd wahrgenommener Menschengruppen, Klassenverhältnisse bleiben weitgehend unsichtbar.
So geht es auch mit dem Aufkommen eines Staatskapitalismus. Dieser ist so schwer wahrzunehmen, weil er weder in das neoliberale sprachliche Raster von Unternehmerinitiative, Innovation und Wettbewerb passt, noch in die identitätspolitischen Kämpfe zwischen kosmopolitischen Eliten und traditionsgebundenen Gemeinschaften, die die öffentlichen und privaten Auseinandersetzungen dieser Tage mehr und mehr bestimmen.
Dabei sind die langfristigen Entwicklungen recht eindeutig:
– Öffentliche Defizite wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg lassen sich mit einem Verweis auf die Corona-Pandemie rechtfertigen, aber auf das Kaputtsparen des Sozialstaats in den 80er und die Privatisierungseuphorie der 90er Jahre zurückführen.
– Die ungehemmte Ausweitung der Geldmenge ist ein Versuch, eine gesamtwirtschaftliche Deflation zu vermeiden und die Börse trotz eines Mangels an rentablen Investitionsprojekten bei Laune zu halten.
– Sanktionen, vor Jahren als humanitäre Intervention mit wirtschaftspolitischen Mitteln gerechtfertigt, werden unverhohlen zur Förderung heimischer Unternehmen eingesetzt, auch wenn ein erheblicher Teil der Anteilseigner und Märkte dieser Unternehmen über die ganze Welt verstreut ist.
– Vom Absterben des Staates in einem durch die Konkurrenz kontrollierten Weltmarkt ist schon lange nicht mehr die Rede.
Dabei bedeutet der Schwenk vom neoliberalen Privatisierungsstaat zum Retter pleitebedrohter Unternehmen mit gutem Draht in Regierungskreise keinesfalls das Ende des Kaputtsparens verbleibender Sozialstaatlichkeit. Vielmehr deutet sich eine Allianz aus neoliberalen und neurechten Politikzirkeln und organisiertem Kapital an, die darauf besteht, dass die neue Großzügigkeit des Staates ausschließlich den Reichen und Mächtigen zugute kommen darf. Der Neoliberalismus hat keinesfalls ein Monopol auf die Feindschaft gegenüber den arbeitenden Klassen, der neue Staatskapitalismus könnte diese Feindschaft sogar auf neue Höhen treiben. Es sei denn, die arbeitenden Klassen überwinden die Feindschaft in ihren eigenen Reihen.