Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2020

Hrsg. Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg. Berlin: Die Buchmacherei, 2020. 126 S., 10 Euro
von Dieter Braeg

Schlachthoftod. Das ist nicht der Titel eines jener Kriminalromane, die mit Lokalkolorit, einen mit seltsamsten Krankheiten ausgestatteten Ermittler oder einen an einer Leberkässemmel oder einem Fischbrötchen erstickten Verbrecher in einer mit kitschigstem Lokalkolorit ausgestatteten Landschaft überführen. Im Jahre 1905 erschien in Amerika der Roman The Jungle von Upton Sinclair. Dieser Roman wurde ein Welterfolg, er schildet das Leben und die Arbeitswelt in den Schlachthöfen Chicagos.


Mehr als hundert Jahre sind vergangen und wir müssen erkennen, dass die «Segnungen» der sozialen Marktwirtschaft, samt propagierter «Humanisierung der Arbeitswelt» nicht nur in deutschen Schlachthöfen, sondern auch beim Bau oder der Ernte sich kaum von jenen Ausbeutungsmechanismen unterscheiden, die Upton Sinclair in seinem Roman schildert.
Heute geht es um das Schicksal jener Menschen in diesem Land, die als «Schattenmenschen» oder «Wegwerfmenschen» zu Sklaven degradiert, ein Leben fristen, das dem Frühwerk von Friedrich Engels aus dem Jahre 1845 Die Lage der arbeitenden Klasse in England entsprungen sein könnte.
Billiges Fleisch, Erdbeeren, Spargel. Jedes Jahr lesen wir Meldungen und Reportagen über Fälle von eklatanten Hygienemängeln bei der Unterbringung, über Lohnraub und Passentzug sowie über Arbeitszeiten, die an den ungezügelten Manchesterkapitalismus in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts erinnern. Die vielen Fleischskandale – verdrängt? Erinnern wir uns noch an Salmonellen, Trichinen, Schwermetalle, Antibiotika – sämtlich feinste Profitverfeinerer im Produkt Fleisch? BSE? Verdrängt?!
Seit Jahren akzeptieren nicht nur Deutschlands Konsumentinnen und Konsumenten, dass Lebensmittel eher der Gewinnmaximierung als der Gesundheit dienen. Das «gesunde soziale» der Marktwirtschaft hat schon lange Konkurs angemeldet. Die Fleischproduktion verdirbt einem abscheinend bisher nicht den Appetit. Nicht nur aus Rumänen kommen jedes Jahr Menschen, nicht nur nach Deutschland, um hier, vorbei an gültigen Tarifverträgen und geltenden gesetzlichen Bestimmungen Spargel zu ernten, Erdbeeren zu pflücken und Fleisch zu zerlegen. Sie, die früher in der eigenen Heimat von den Erträgen ihrer Höfe leben konnten, sind längst Opfer jenes Supermarktkettenwahnsinns geworden, bei dem ein Kilo Fleisch nicht mehr als 3 Euro kosten darf und Agrarprodukte aus Südamerika hier zu Ramschpreisen verhökert werden – zum Wohle einer konsumierenden Bevölkerung, die längst das Denkvermögen eingestellt hat und mit dem Kampfruf «billigbillig» in die Supermarktläden gelockt wird.
Der «Spargelnotstand» hat Vorfahrt vor Ausbeutungsmethoden und Lebensumständen, die sich ein nach Tarifvertrag bezahlter abhängig Beschäftigter (noch) nicht vorstellen kann.
Das «System Tönnies» – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei. Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums! knüpft an das an, was Upton Sinclair vor über hundert Jahren beschrieben hat. Darin beschreiben verschiedene Autorinnen und Autoren, unter die Aktivistin Inge Bultschnieder, der Gewerkschaftssekretär Matthias Brümmer oder der Pfarrer Peter Kossen, was mit Menschen und Tieren geschieht, wenn die Schlachterei beginnt.
Der Corona-Lockdown bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück ist erst der Anfang einer Realität, die unter dem Namen Werksvertrag in immer mehr Branchen zur Anwendung kommt – vor allem dort, wo man auf Menschen setzt, die aus Ländern «rekrutiert» werden, die noch schlimmere Arbeits- und Lohnbedingungen haben, als sie Tönnies & Co anbietet.
Pfarrer Kossen schreibt: «Wer nicht den Mut hat, das System zu wechseln, die Sklavenhalter ins Gefängnis zu bringen und die Arbeiter in Festanstellung, der wird immer nur an den Symptomen herumdoktern, aber nie das Übel beseitigen.» Er zeigt den Unterschied auf, der zwischen der Arbeitswelt und der Meinung der verantwortlichen Politik liegt: Am 6.März stellte das Arbeitsministerium, Minister ist Hubertus Heil (SPD), zur Frage nach dem Unterschied zwischen Werksvertragsarbeit und Kernbelegschaft fest: «Die Bundesregierung hat keine Kenntnis darüber, ob die Arbeitsbedingungen stark voneinander abweichen.»
Wie oft Kontrollen der «Werkvertragsfirmen» in den letzten zehn Jahren stattfanden, das ist der Regierung nicht bekannt. Endlich zwingend in allen Betrieben das Betriebsverfassungsgesetz samt Betriebsrat durchzusetzen, das ist derzeit keine Diskussion wert. Da regiert eher Coronachaos samt Pflichttestung an allen deutschen Grenzen und Flughäfen.
Menschen werden benutzt, verschlissen und dann isoliert und abgeschoben – verschrottet wie veraltete Maschinen. Das ist legal. Wegwerfmenschen bauen Kreuzfahrtschiffe und teure deutsche Autos, schuften als Scheinselbständige auf Baustellen, Paketzustellung oder in der Pflege. Der Rechtsstaat lässt das zu und die Gesellschaft schaut augenzudrückend weg. Wann wird eine Arbeitskontrollbehörde endlich mit Kontrollen diese Ausbeutung und Sklaverei beenden?

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