Ver.di geht neue Wege
von Violetta Bock
Der Tarifkampf im öffentlichen Dienst ist immer ein Kraftakt – unter Corona-Bedingungen gilt das erst recht. Dabei ist die Signalwirkung und Strahlkraft des Abschlusses nicht zu unterschätzen, wirkt er doch weit über die im öffentlichen Dienst angestellten KollegInnen hinaus. Hier wird stellvertretend die Frage ausgekämpft, wer für die Krise zahlen soll.
Die Arbeitgeberverbände haben sich natürlich bereits entschieden: Beim Sondierungsgespräch wurde deutlich, dass sie sogar eine Verschlechterung des Tarifwerkes anvisieren. So sollen, wenn überhaupt, nur die leistungsorientierte Bezahlung und die Gehälter bestimmter Beschäftigtengruppen erhöht werden. Zudem wollen sie die Pandemiesituation nutzen, eine Verschlechterung der Eingruppierungssystematik auf den Verhandlungstisch zu werfen.
Neue Methoden – Neue Haltung?
Auffällig an dieser Tarifrunde sind die offensiv beworbenen Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten – insbesondere digital. Da erhält das gemeine Mitglied etwa über E-Mails, Telegramkanal und Homepage regelmäßig neueste Informationen, aber eben auch die Aufforderung, aktiv zu werden: in der Forderungsfindung, in digitalen Gesprächstrainings oder Branchenkonferenzen, aber auch als TarifbotschafterIn. Letzteres sind aktive Mitglieder, die ihren Betrieb repräsentieren und in regelmäßigen digitalen Treffen mit den Vorsitzenden und den anderen bundesweiten TarifbotschafterInnen über die aktuellen Entwicklungen in der Tarifauseinandersetzung informiert werden. Die Botschaft ist eindeutig mobilisierungsorientiert: «Hier sind alle relevanten Informationen, stell Fragen, lass uns diskutieren und dann mach was in deinem Betrieb damit».
Diese zentral von der Bundesebene angelegte Hau-ruck-Aktion mag nicht nur durch die Krise bedingt sein. Sie wirft die Frage auf, ob der Führungswechsel zu Frank Werneke und Christine Behle vielleicht auch eine Haltung und Praxis gestärkt hat, die auf der Einsicht fußt, dass selbst Sozialpartnerschaft eines Mindestmaßes an spürbaren Konflikten bedarf – und dass diese von den Mitgliedern selbst getragen sein müssen.
Klare Kommunikation ist alles?
Die Resonanz und Teilnahmezahlen scheinen aber nicht ganz den Erwartungen zu entsprechen. Warum werden Ver.di nicht die (digitalen) Türen eingerannt? Verstehen die Mitglieder etwa den Ernst der Lage nicht? Haben sie alle keinen stabilen Internetanschluss oder scheitern an der Technik? Ist der Urlaub tatsächlich gerade wichtiger?
Obwohl das Digitale tatsächlich einige reale technischen Hürden aufwirft, wurzeln die Probleme tiefer: Das beginnt schon bei der schier unübersehbaren Flächentarifvertragslandschaft mit ihren je bereichsspezifischen Bedingungen und Vertretungskulturen – zusammengehalten durch jahrzehntelange Stellvertreterpolitik und sozialpartnerschaftlichen Arrangements. Wenn nun mit enormem Ressourceneinsatz Beteiligungselemente in eine solche Stellvertreterkultur eingeführt werden, mag dies kurzfristig mobilisierend wirken. Es bedeutet aber noch keineswegs, dass Beteiligung strukturell verankert wird – und damit das zur Übernahme von Verantwortung und zum Durchstehen von Konflikten nötige Vertrauen der Mitglieder entsteht.
Gerade wenn die KollegInnen von sich aus nicht schon in Kampfstellung sind, gilt es behutsam mit dem leicht störbaren Gefühl umzugehen, dass es sich lohnt, Kraft und Zeit zu investieren, weil der Kampf als sinnvoll erfahren wird. Beides folgt keiner Verwertungslogik nach dem Motto: «Der Abschluss wird mir das wiedergeben.» Hiermit wurden noch nie Abwehrkämpfe gewonnen. Auf dieser Logik aufzubauen, verstellt den Blick auf Lern- und Emanzipationsprozesse. Es braucht einen Nährboden, der individuell erlebbar werden lässt: Diese Konflikte sind relevant (ohne sie geht es nicht) und sie sind zu bewältigen. Insbesondere: Meine Aktivität zählt wirklich.
Eben dies umzusetzen, ist in einer Flächenauseinandersetzung, noch dazu mit wenig ökonomischer Schlagkraft, ein Mammutprojekt – denn die Auswirkungen des eigenen Handelns sind nicht unmittelbar wahrnehmbar.
So spüre ich, wenn ich streike, meistens nicht meine Macht. Vielmehr sehe ich etwa am nächsten Tag die liegen gebliebene Arbeit, oder ich gefährde mir anvertraute Menschen. Mein Arbeitgeber spart vielleicht sogar Geld und ich ziehe die Wut der Öffentlichkeit auf mich. Überhaupt, die Öffentlichkeit: Die findet ja selbst in Nicht-Corona-Zeiten, mir gehe es gut genug. In meiner Kommune ist der Organisationsgrad und die Beteiligung am Streik gering. Viele KollegInnen haben sich mit der Haltung eingerichtet: Den Abschluss kriege ich ja eh.
Darüber hinaus erscheint die Bundestarifkommission weit weg (wer sind die eigentlich?). Die Verhandlungsführung ist wenig greifbar. Auch der Arbeitgeberverband ist anonymer als mein eigener Arbeitgeber (der nur zu gerne beteuert, an ihm solle es nicht scheitern).
Zentralisierung – ein Weg zum Erfolg?
Durch die digitalen Kommunikations- und Schulungselemente wird Informationsfluss gewährleistet, kann Nähe und Sinnhaftigkeit hergestellt werden. Sehr ambivalent ist es jedoch, wenn die zentral aufgelegten Elemente an den lokal gewachsenen Strukturen vorbeigehen und hierdurch Parallelstrukturen entstehen.
Denn vieles gibt es bereits in Varianten lokal, organisiert über reale Treffen im Betrieb oder überbetrieblich in einer Region. Jetzt ist die Verhandlungsspitze vielleicht interessanter als der Gewerkschaftssekretär vor Ort und der Fahrweg zum Gewerkschaftshaus kann gespart werden. Im schlimmsten Fall entfremdet jedoch gerade das die Leute von der Organisation, denn die Verbindung wird (nur kurzzeitig) «nach oben» geöffnet, nährt dabei aber womöglich erst recht den Dienstleistergedanken («Ich werde informiert»).
Das gilt insbesondere, wenn die langjährig Aktiven selbst im Stellvertretermodus groß geworden sind und die Gewerkschaftsarbeit von Personalräten getragen wird. Zwar ist der Appell, «werde aktiv in deinem Betrieb, es liegt auch an dir» überdeutlich. In einer Kultur, die auf keiner kontinuierlichen Basisorientierung aufbaut, gibt es aber kaum Nährboden für das sinnhafte Erleben von Selbstaktivität.
Insofern wird aktuell mit einem kulturellen Spagat experimentiert, der sowohl Fragen der Arbeitsfähigkeit als auch der Demokratie aufwirft. Wenn offensiv geworben wird: «Sei für ein Projekt dabei», dann mag das neue Aktive anziehen. Aber wie vertragen sie sich mit den gewachsenen Strukturen und wie tragfähig sind sie z.B. im Zusammenhang mit den Organisationswahlen? Hier gilt es den Generationswandel, lokale Traditionen, aber insbesondere auch die Arbeit jenseits von Tarifrunden verstärkt in den Blick zu nehmen.
Dass die Herkulesarbeit nicht zentral entschieden und einfach umgesetzt werden kann, sollte klar vertretbar sein. Bei aller Kritik sollten die lokalen Anstrengungen jedoch auf das Ziel orientiert sein: Vielerorts sind starke überregionale Impulse dringend notwendig, um die Weichen hin zu konflikt- und beteiligungsorientierter Gewerkschaftsarbeit zu stellen. Die Signale gilt es daher beim Wort zu nehmen. Und für die hierdurch ausgelösten Konflikte, die letztlich lokal ausgefochten werden müssen – jenseits kurzfristig angelegter Projektarbeit – gilt es notwendige Unterstützung einzufordern.
Was muss (neu) gelernt werden?
Es ist eine interessante Entwicklung, wenn im Bereich der Pflege mit einem sogenannten Stärke-Test gearbeitet wird. Demnach soll es eine Branchenforderung für den Pflegebereich geben, wenn die KollegInnen hierfür im Vorfeld auch Kampfstärke belegen können. Dies ist nur logisch, da Verhandlungsergebnisse erst durch realen Druck erzielt werden können.
Es ist überfällig, dass solche strategische Arbeit auch Bestandteil der TvÖD-Runde wird. Dies könnte allerdings auch schmerzhaft mit der diffusen (Solidaritäts-)Tradition kollidieren, wonach z.B. die beschämend schlecht organisierte Kernverwaltung seit Jahr und Tag vom Verhandlungsergebnis profitiert, welches eher KollegInnen aus den gewerblichen Bereichen oder aus dem Sozial- und Erziehungsdienst erkämpft haben.
Aus der Defensive zu kommen ist nie einfach. Klar sollte jedenfalls sein: Ein «Weiter so» ist nicht möglich!
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