Der Anfang von welchem Ende?
von Catherine Samary
Der sechsten Wiederwahl von Alexander Lukaschenko am 9.August gingen Massenmobilisierungen voraus und folgten auf sie – verursacht durch Betrug und Sozialkürzungen und angeheizt durch Polizeibrutalität. Nach vielfachen Spannungen mit seinem russischen Nachbarn bittet der belarussische Autokrat nun Putin um «Hilfe» gegen den beispiellosen sozialen Protest.
Dieser aber findet unter den Kandidaten für die Nachfolge Lukaschenkos keinen wirklichen Wortführer – sie streben alle weiteren Privatisierungen an.
Der Zerfall der UdSSR wurde am 8.Dezember 1991 von russischen Präsidenten Boris Jelzin und seinen beiden Amtskollegen aus der Ukraine und Weißrussland auf weißrussischem Territorium verordnet – obwohl die Bevölkerung noch am 17.März mit überwältigender Mehrheit für die Beibehaltung (und die Reform) der Union gestimmt hatte. Die «liberale» Schocktherapie, von Jelzin initiiert und zunächst auch von der prowestlichen «Belarussischen Volksfront» (BNF) befürwortet, wurde 1994 jedoch durch die Amtsenthebung wegen Korruptionsvorwürfen des damaligen Präsidenten und die Wahl Alexander Lukaschenkos zum Staatspräsidenten gestoppt. Dieser nahm zwar den alten Namen Weißrussland an, schlug aber vor, anstelle der weiß-roten Fahne der ersten vorsowjetischen Republik von 1918 (durch ein Referendum 1995) die «sowjetische» Fahne zu nehmen – jedoch ohne Hammer und Sichel und den roten Stern.
Der von ihm verfügte Stopp der liberalen Schocktherapie und die Aufrechterhaltung eines starken öffentlichen Sektors zielte darauf ab, seine zunehmend autokratische Macht zu konsolidieren. Und sie ging mit der Unterdrückung starker Streikbewegungen einher. Wie David Mandel in einem Vergleich der Lage und der Kämpfe der Arbeiter und Gewerkschaften in Russland, der Ukraine und Belarus in den 1990er Jahren betont, wurden in Belarus «die Gewerkschaften viel systematischer unterdrückt» als in Ländern, die mit Hilfe von Privatisierungen einen «größeren gesellschaftlichen Zerfall» herbeiführten – das andere Mittel, um jegliche Herausforderung des alten bürokratischen System durch seine eigene soziale Basis, die Arbeiter, zu brechen.
Der Weg in den Neoliberalismus
Die gewerkschaftliche und politische Unterdrückung ging mit dem anfänglichen Bestreben einher, das neue Regime durch sozioökonomische Erfolge zu stabilisieren. Im Jahr 2018 lag Belarus im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen unter 189 Ländern auf Platz 53 und verzeichnete eine der niedrigsten Ungleichheitsraten in Europa. Ihr Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich seit 1990 vervierfacht (20000 Dollar gegenüber 9000 Dollar in der Ukraine in Kaufkraftparität).
Doch die an die Beschäftigung gekoppelten sozialen Errungenschaften und der «Kult der Arbeit» (nicht der Arbeiter!) haben die Merkmale aus der Sowjetzeit abgeschüttelt und gehorchen inzwischen einer robusten neoliberalen Logik, wie etwa der Verpflichtung, jede Arbeit (im staatlichen und zunehmend auch im privaten Sektor) anzunehmen. Seit 2004 ersetzen individuelle Arbeitsverträge das System der Tarifverträge, und das Rentensystem berücksichtigt weder den Militärdienst noch den Mutterschaftsurlaub oder das Studium. Unter der Banken- und Finanzkrise von 2008/09 hat das Land weniger als andere gelitten, die den globalen Finanzmärkten offener standen, das Wachstum schwankte, konnte aber bis zur ukrainischen Krise 2013, die das Ende des Regimes Janukowitsch einleitete, beibehalten werden. Erst diese Krise bescherte dem Land wegen seiner engen Beziehungen sowohl zur Ukraine als auch zu Russland die ersten Rezessionen seit 1995.
Das geopolitische Umfeld
Die Krise in der Ukraine und die «Heimholung» der Krim nach Russland waren für die belarussische Regierung, wie für viele andere «postsozialistische» Autokraten, in mehrfacher Hinsicht traumatisch – und polarisierten auch die Linke. Die These von der «farbigen Revolution», von den Westmächten geschürt und zudem mit den darin sehr aktiven faschistischen Strömungen gleichgesetzt, wurde für die Autokraten zu einer willkommenen Vorlage, die sozialen Bewegungen, die sie herausforderten, zu denunzieren. Aber auch die Staatschefs ehemaliger nichtrussischer Sowjetrepubliken bezogen Position gegen den Inhaber der russischen Macht und seinem nehr asymmetrischen Unionsplänen. Der repressive und autoritäre Kurs des Regimes Lukaschenko wurde verstärkt und erklärte nun, wie in Russland, jeden Gegner zu einen vom Ausland finanzierten Spielball. Nur dass dieser «Ausländer» für Lukaschenko auch ein Russe sein konnte.
Lukaschenko beschloss daher sich breiter aufzustellen: Bei den Verhandlungen in Minsk spielte er die Rolle des Vermittlers zwischen dem amtierenden ukrainischen Präsidenten, Putin, Merkel und Macron. Seine «Neutralität» trug ihm 2016 die Aufhebung der EU-Sanktionen ein. In der Praxis sahen bereits die ersten von Lukaschenko und Jelzin unterzeichneten Verträge eine «Staatsunion» zwischen Russland und Belarus vor – die möchte Putin nun konkretisieren. Und er würde nicht zögern, Lukaschenko durch einen fügsameren Führer zu ersetzen, der für neue Privatisierungen offen ist: Die jüngsten Verhandlungen im Dezember 2019 stießen auf den Widerstand des belarussischen Präsidenten. Die Pläne für eine Eurasische Union, die 2014 von Kasachstan, Belarus und Russland initiiert wurde (und die sich angeblich am «Modell» der EU orientiert), liegen ziemlich am Boden.
Dafür ist die Staatsverschuldung von Belarus von weniger als 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2005 auf heute etwa 50 Prozent gestiegen. Der doppelte Druck Russlands als auch des IWF hat alle Spannungen verschärft. Seit fünf Jahren gibt es einen Lohnstop, gleichzeitig steigen viele Preise. 2017 wurden Arbeitsverträge allgemein befristet, in Ergänzung zu einem Gesetzentwurf, der eine Steuer auf die – als «sozialer Parasitismus» gebrandmarkte – Arbeitslosigkeit einführen wollte. Nach ersten sozialen Protesten, an denen vor allem Jugendliche und Blogger beteiligt waren, wurde der Entwurf fallengelassen. COVID-19, von Lukaschenko zunächst mit Spott bedacht, trug weiter zur Diskreditierung des Regimes bei.
Frauen, junge Leute, Arbeiter…
Die Wahlen vom 9.August fanden vor diesem gesellschaftspolitischen Hintergrund statt. Die Spannungen mit Putin sind groß, trotz der Nähe der beiden Bevölkerungen und dauerhafter Abhängigkeiten zwischen ihnen. Angeblich steht Moskau hinter zwei der drei von Lukaschenko vor den Wahlen abgelehnten Kandidaten, aber auch hinter 33 kürzlich verhafteten Söldnern, Mitgliedern einer «Wagner-Gruppe», die in der Ukraine, Syrien, Libyen und Zentralafrika für die russische Regierung tätig gewesen sein soll.
Aber die Ereignisse nahmen eine unvorhergesehene Wendung. Lukaschenko begann damit, dass er seine drei Hauptkandidaten (Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo) demontierte – sie seien alle mit der Geschäftswelt verbunden. Da er aber «Pluralismus» beweisen wollte, akzeptierte erst die Kandidatur von Tichanowskis Frau Swetlana Tichanowskaja, die er für harmlos hielt und die ins Ausland geflohen ist, und danach die der beiden anderen verdrängten Kandidaten – alle hatten keine politische Erfahrung, waren aber entschlossen, die Nachfolge ihrer Ehepartner anzutreten.
Die Oppositionskampagne wurde zunächst von Swetlana Tichanowskaja angeführt, die ihre Angst (um ihre Familie) in einfachen Worten zum Ausdruck brachte. Sie wurde bald von den beiden anderen Frauen, Maria Kolesnikowa (Babarikos Kampagnenleiterin) und Veronika Zepkalo, unterstützt. Ihr Mut und ihre Zerbrechlichkeit «sprachen» zu den Menschen. Die Jugend engagierte sich massiv, einen entscheidenden Moment gab es am 7.August, als Lukaschenko erklärte, ein Rockkonzert zu unterstützen – und Swetlana Tichanowskaja beschloss, daran teilzunehmen. Die Überraschung kam, als in ihrer Gegenwart die Diskjockeys, die das Konzert veranstalteten, ein nicht vorgesehenes Lied coverten, Peremena (Veränderung) von Viktor Zoi (gestorben 1990), ein Mitglied der ehemaligen russischen Band Kino – es war ein Kultlied aus der Zeit der Perestroika.
Die Bekanntgabe der Wahlergebnisse – angeblich waren nur etwa 10 Prozent der Stimmen auf Tichanowskaja und 80 Prozent auf Lukaschenko entfallen – löste Ärger und Proteste aus. Die Gewalt der Unterdrückung – vor allem durch die Spezialeinheiten, die OMON – konnte nur einen Volksaufstand entfachen, der im ganzen Land, weit über Minsk hinaus, das Regime zum Teufel jagen wollte.
Ein wichtiger Wendepunkt ab dem 10.August war die Beteiligung der Beschäftigten aus Vorzeigeunternehmen an Streikaufrufen und Demonstrationen, die ein Ende der Gewalt und die Freilassung der Verhafteten forderten und die Wahlergebnisse anfochten. Mehrere Führer von Streikkomitees wurden brutal misshandelt und/oder verhaftet, wie etwa der Metallarbeiter und Veteran der unabhängigen Gewerkschaft (BKPD) Nikolaj Simin, der im August schwer verprügelt, verhaftet und wie einige andere zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt wurde.
Ausgang offen – intern wie international
Die Gegenkandidatinnen, die die Kampagne gegen das Regime, seinen Betrug und seine Gewalt anführten, haben über ihr (pro- oder antirussisches) Privatisierungsprogramm geschwiegen. Aber die «Oppositionfront» ist bereits zusammengebrochen, Details sind unklar geblieben. Die Opposition hat einen Koordinierungsausschuss eingerichtet. Doch am 31.?August provozierte Maria Kolesnikowa (unterstützt von Viktor Babariko), Mitglied des Präsidiums dieses Ausschusses, den ersten öffentlichen Eklat: Sie kündigte einseitig die Gründung einer neuen Partei («Gemeinsam») an und öffnete damit die Tür zu möglichen Neuwahlen ohne Lukaschenkos vorherigem Abgang. Dies wurde von Swetlana Tichanowskaja (die sich nach Litauen geflüchtet hat) rundheraus abgelehnt.
Zur gleichen Zeit beschloss Lukaschenko, der zunächst die russische Einmischung angeprangert hatte, um russische «Hilfe» zu bitten – nachdem er die 32 russischen Bürger unter den 33 verhafteten Söldnern nach Russland zurückgeschickt hatte. Putin wird aber weder einen Verlierer unterstützen, noch eine Volksbewegung fördern wollen, die seinen Untergang herbeiführen könnte.
Die Affäre Nawalny macht es überdies Macron und Merkel schwer, sich bei der Bewältigung dieser Krise auf Putin zu stützen (gegen den Druck Polens und der baltischen Staaten sowie der USA). Bisher hat Putin Lukaschenko ein Darlehen von 1,3 Milliarden Euro gewährt (mutmaßlich begleitet von einer Umschuldung und verbilligten Lieferungen fossiler Brennstoffe) – etwas, das weder der IWF noch die EU bereitstellen können.
Niemand vor Ort ist derzeit in der Lage, Bestrebungen des Volkes zu «vertreten» und zu verteidigen, die sich weder auf Russland noch auf die EU, sondern auf politische und soziale Grundrechten und -freiheiten richten. Die internationale politische und gewerkschaftliche Linke muss solche Forderungen unterstützen, ebenso die unabhängige Gewerkschaftsbewegung, die unter einem solchen Regime schwach, aber real ist, und alle Formen der Selbstorganisation des Volkes, die allein in der Lage sind, der «Instrumentalisierung» von allen Seiten Einhalt zu gebieten.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.