Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2020

Die Democratic Socialists of America und die Wahlen
Interview mit Meagan Day und Micah Uetricht*

Barry Eidlin interviewt Meagan Day (MD) und Micah Uetricht (MU). Die beiden sind Mitglieder der Democratic Socialists of America (DSA) und veröffentlichten Bigger than Bernie: How we go from the Sanders Campaign to Democratic Socialism (Verso Books, 2020).

Eidlin ist der Autor von Labor and the Class Idea in the United States and Canada (Cambridge University Press, 2018) und Professor für Soziologie an der McGill University in Montréal. Er führte das Interview für die Zeitschrift Against the Current.

Angesichts der Restriktionen, die das Zweiparteiensystem in den USA enthält, dreht sich die Debatte innerhalb der Linken traditionell um die Rolle der Demokratischen Partei. Sowohl Sanders’ Kampagnen als auch Jesse Jacksons Rainbow Campaign in den 80er Jahren wurden letztlich nur in die Kanäle der Demokratischen Partei gelenkt. Ist sie der Friedhof der sozialen Bewegungen? Oder gibt es eine Möglichkeit, eine alternative politische Bewegung am Leben zu halten?

MD: Die Mitgliederzahlen der DSA explodierten, als Bernie Sanders in der Vorwahl der Demokraten gegen Hillary Clinton kandidierte, obwohl er seine Karriere als Unabhängiger verbracht hat. Ich gehöre zu denen, die auf dieser Welle der DSA beigetreten sind. Im Rahmen der DSA und als direktes Ergebnis der Kampagne von Bernie Sanders konnte ich zusammen mit Tausenden anderer Menschen eine politische Unabhängigkeit von der Demokratischen Partei (DP) entwickeln. Es ist entscheidend, das zu verstehen.
Die Kandidaturen von Bernie Sanders haben die Widersprüche in der Demokratischen Partei zwischen Führung und Basis verschärft. Seine Kandidatur und sein Programm warfen ein Schlaglicht auf den politisch extrem reaktionären und wirtschaftlich konservativen Charakter dieser Partei; sie trugen dazu bei, neue politische Gruppierungen zu schaffen, die der Partei außerordentlich skeptisch, ja sogar ablehnend gegenüberstehen.
Ich glaube nicht, dass es unbedingt stimmt, dass man das Vertrauen in die Demokratische Partei stärkt, nur weil man auf der Liste dieser Partei kandidiert. Tatsächlich ist das Vertrauen vieler Menschen in die Partei erschüttert, seit Bernie Sanders seinen ersten Wahlkampf auf der Liste der DP begann.

MU: An der Demokratischen Partei festzukleben und keine eigene Partei zu haben, war und ist stets ein großes Hindernis für die Linke in den USA. Wir meinen, der Weg aus der Demokratische Partei heraus führt über eine Strategie des «schmutzigen Bruchs». Was politische Persönlichkeiten wie Bernie und Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) in den letzten Jahren getan haben, hat die Widersprüche innerhalb der Partei erfolgreich verschärft.
Es gibt Millionen Menschen, die gerade sehr gut mitbekommen haben, was passiert, wenn man innerhalb der Demokratischen Partei kandidiert. Nach gängiger Auffassung ist die Demokratische Partei die linke Partei, und doch hat die Partei alles getan, um Bernie Sanders zu zerstören, als er sagte, wir brauchen einige wirklich elementare sozialdemokratische Programme wie z.B. Medicare for All. Was könnte besseren Anschauungsunterricht erteilen als diese Art von Angriffen? Jetzt liegt es an den Sozialisten, den nächsten Schritt zu tun und zu sagen: Ja, diese Partei taugt wirklich nichts, langfristig brauchen wir unsere eigene Partei.
Man kann wirklich nicht sagen, dass Bernies Wahlkampf für seine Nominierung als Präsidentschaftskandidat der DP in die Hände gespielt hätte, im Gegenteil, das Partei-Establishment war darüber sehr beunruhigt. Sie sind auch beunruhigt über die Stärke, die die DSA in den Staaten und Städten des Landes erlangt, in denen wir sozialistische Kandidaten auf der Wahlliste der DP aufstellen.
Sollten wir jemals in der Lage sein, mit der Demokratischen Partei zu brechen, bewegen wir uns in eine gute Richtung.

Worum geht es bei eurer Theorie der «klassenkämpferischen Wahlen»?

MD: Wir haben drei Kriterien für eine Wahlpolitik, die zum Aufbau einer sozialistischen Bewegung beiträgt.
Das erste Kriterium ist: Die Kampagne, oder die Amtsperiode danach, wenn die Wahl erfolgreich war, muss darauf ausgerichtet sein, Erwartungen in der Arbeiterklasse zu wecken. Eines der Markenzeichen des Neoliberalismus ist ja, dass politische Alternativen gar nicht mehr als vorstellbar gelten. Mit klassenkämpferischen Wahlen wollen wir diesen Bann brechen und den Menschen wieder das Gefühl geben, dass kollektiver politischer Kampf eine andere Welt möglich macht. Dann müssen wir Forderungen aufstellen, mit denen wir den Menschen zwei Schritte voraus sind, aber nicht zwanzig. Wir müssen über den Rahmen dessen, was im «normalen» politischen Diskurs für möglich gehalten wird, hin­ausgehen. Wir dürfen aber nicht zu weit gehen, sonst verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit. Das ist ein Balanceakt, den wir unbedingt berücksichtigen müssen, wenn wir uns in der Wahlpolitik engagieren. Ein gutes Beispiel dafür ist Bernie Sanders’ politischer Leitvorschlag für 2016: Gesundheitsversorgung für alle.
Das zweite Kriterium ist, sich auf einen Prozess sowohl der Polarisierung als auch der Einheit einzulassen, zu dem nur Sozialisten fähig sind – wir können die Arbeiterklasse einen, während wir uns der Kapitalistenklasse entgegenstellen. Die Republikaner sind Meister der Spaltung und Polarisierung. Sie spalten die Arbeiterklasse nach Ethnie, Geschlecht, Nationalität, Sexualität, Kultur und Geografie. Demokraten hingegen fordern Einheit, aber eine falsche Form der Einheit?: eine unmögliche Harmonie zwischen gesellschaftlichen Interessen, die einander diametral entgegengesetzt sind.
Das dritte Kriterium ist ganz einfach. Es ist die goldene Regel, dass sozialistische Wahlkampagnen die Bewegungen stärker machen müssen, als sie sie vorgefunden haben. Das bedeutet, nicht nur im «Dialog» mit den Bewegungen zu stehen, wozu progressive Kräfte oft fähig sind, sondern eine verstärkte Beziehung zu ihnen zu entwickeln.
Wir wollen die Kandidatur und das Amt nutzen, um bereits bestehende Bewegungen aufzubauen und neue Bewegungen oder neue Quellen außerparlamentarischen Drucks zu schaffen. Unser Ansatz ist nicht, dass wir auf dem Wahlweg zum Sozialismus kommen. Wir werden Druck von unten ausüben müssen, um Veränderungen zu erzwingen. Diesen Druck aufzubauen ist eine Hauptaufgabe sozialistischer Politik.

In jüngster Zeit haben wir in einigen Bundesstaaten Vorwahlen erlebt, in denen Sozialisten im weitesten Sinne wichtige Siege davontrugen. Zum Beispiel gewannen AOC und vier weitere DSA-Kandidaten die Vorwahlen im Bundesstaat New York. Kürzlich gab es Siege in Texas, und die Misserfolge in Kentucky waren nur knapp. Zeichnet sich ein Aufstand gegen das Establishment der DP ab? Wie weit kann er gehen?

MD: Dies ist ein Aufstand gegen das Establishment der Demokratischen Partei. Wie weit er gehen kann, hängt von der organisatorischen Kapazität ab, die wir zu seiner Unterstützung aufbauen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie an soziale Bewegungen gebunden ist. Es kommt darauf an, ob die Parteiführung in der Lage sind, uns zu erdrücken. In einigen Fällen scheint es so zu sein, in anderen nicht, das ist unterschiedlich. Überall sehen wir Risse in der Fassade. Als zum Beispiel AOC Joe Crowley verdrängte, war klar, dass selbst mächtige demokratische Amtsinhaber nicht mehr die Fähigkeit haben, einen Angriff wie den von AOC abzuwehren. Die Frage ist, ob wir jedesmal die Kraft aufbringen können, die Angriffe des Establishments zurückzuweisen.

AOC oder Jamaal Bowman mögen sich zwar persönlich als Sozialisten verstehen und nominell Mitglied der DSA sein, aber sie sind keine DSA-Aktivisten. Wie können sie da die sozialistische Agenda vorantreiben? Gewählt werden ist nur die erste Hürde. Danach werden sie durch all die vielen Hindernisse eingeschränkt, die ihnen der kapitalistische Staat und die Partei in den Weg legen. Wie bewegen wir uns als sozialistische Bewegung auf diesem Terrain?

MD: Das ist eine wichtige Frage. Zunächst ist es wichtig, unsere eigenen Leute einzubinden damit meine ich DSA-Aktive, die in Bewegungen verankert sind – im Idealfall Menschen, die sich im Kontext mit der DSA politisch entwickelt haben und die DSA als ihre politische Heimat betrachten. Wenn so jemand nicht zur Verfügung steht, sollten wir uns Leuten zuwenden, die in anderen sozialen Bewegungen verankert sind, in anderen Organisationen, die wir für gute, starke Arbeiterorganisationen halten, die unsere politischen Werte teilen. Wenn wir das nicht tun, werden wir unsere politische Identität schnell verlieren. Wir würden mit Leuten enden, die zwar bei uns sind, aber weder die politische Perspektive noch die persönlichen Beziehungen oder das Rückgrat haben, dem konservativen Druck zu widerstehen, der auf ihnen lastet, wenn sie im Amt sind.
Ideal wäre, als DSA zu kandidieren. Wir haben fähige Organisatoren, die durch Jahre des politischen Kampfes gegangen sind und u.a. in Kampagnen gearbeitet haben, in denen sie sich die Hände in der Politik schmutzig machen konnten.
Sie haben sich in einer pluralistischen demokratischen Organisation engagiert, die es ihnen ermöglicht, politische Fähigkeiten zu erwerben, z.B. die Menschen davon zu überzeugen, ihren Ideen zuzuhören. Sie wissen, wann sie eine Koalition mit Menschen eingehen müssen, die ihnen nicht unbedingt zustimmen, und wann sie Standfestigkeit zeigen müssen. Diejenigen, die solche Fähigkeiten im Rahmen der DSA entwickelt haben, sind die besten Leute für die Kandidatur für ein Mandat. Letztlich brauchen wir einen DSA-Apparat, der den Leuten, sobald sie im Amt sind, das Rückgrat stärkt.

Was ist die Aufgabe von Sozialisten bis November?

MU: Die DSA stimmte auf dem Kongress 2019 in Atlanta dafür, neben Bernie keinen weiteren Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen. Das war die richtige Entscheidung. Ich glaube nicht, dass Sozialisten in bezug auf die Präsidentschaft in unmittelbarer Zukunft etwas tun können. Der DSA ist es bisher gelungen, sowohl eine gute klassenkämpferische Wahlpolitik als auch gute Organisationsarbeit ohne Bezug zu den Wahlen zu machen. Das sind unsere Hauptaufgaben für die Zukunft.

MD: Wenn einzelne DSA-Mitglieder das Gefühl haben, dass sie in den umkämpften Staaten für Biden stimmen müssen, dann ist das verständlich und die Entscheidung liegt bei jedem einzelnen Mitglied. Als Organisation hat die DSA die richtige Entscheidung getroffen, unser unglaubliches Aktivitätspotenzial bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zurückzuhalten. Es ist wichtiger für uns, eine starke politische Identität zu bewahren.
Es gibt noch andere Themen als «Trump versus Biden». In Kalifornien gibt es einen großen Vorstoß für ein Referendum namens «Schools and Communities First», das ist ein Versuch, die Reichen zu besteuern, um die öffentliche Bildung zu finanzieren.
Seitdem wir beschlossen haben, Joe Biden nicht zu unterstützen, werfen uns die Liberalen vor, wir seien schlechte Verlierer und würden aus der Politik aussteigen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich bin erstaunt, wie sehr die DSA-Mitglieder derzeit damit beschäftigt sind, alle möglichen Kampagnen zu führen.

Eine der großen Fragen, mit denen wir uns herumschlagen, ist die, dass uns eine Arbeiterpartei fehlt. Besteht die Möglichkeit, dass die neu entstehende Bewegung im Jahr 2020 die Bedingungen dafür schafft?

MU: Viele innerhalb der DSA verstehen, dass die Demokratische Partei nicht ihr Freund ist. Die Demokratische Partei ist grundsätzlich eine kapitalistische Partei, die nicht die Interessen der Arbeiterklasse vertritt. Vieles muss sich noch ändern, damit wir eine Massenpartei der Arbeiterklasse schaffen können. Wer weiß, vielleicht erleben wir in diesem Jahrhundert noch einen reaktionären Backlash, bei dem wir alle im Gefängnis landen, bevor wir eine solche Partei gründen können. Dennoch bin ich äußerst optimistisch, was die allgemeine Richtung betrifft, in die sich die neugeborene sozialistische Bewegung in den USA bewegt, nämlich in Richtung einer eigenen Partei.

*Against the Current 208, September/Ok­tober 2020.

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