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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2020

Imperialismus im Gewand «humanitärer Hilfe»
von Nabil Sourani

Seit Oktober 2019 entlädt sich die Wut der Bevölkerung in Form von Massenprotesten im ganzen Libanon. Mit Repression sichern Militär und Polizei ein von den USA und der EU aufgebautes System vor den Massen und vor iranischem Einfluss ab.

Das repressive Vorgehen gegen Protestierende wird jedoch erst durch die EU und die USA ermöglicht, denn diese beliefern den libanesischen Sicherheitssektor seit Jahrzehnten mit Waffen und bilden Personal aus. Gleichzeitig tragen sie Verantwortung für das politische und wirtschaftliche System, das den Protesten erst den Boden bereitet hat.
Die Explosion im Hafen nutzen sie nun als Einfallstor, um ihren Einfluss zu verstärken. Unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe sollen weitere Reformen gegen den Willen der Bevölkerung erzwungen werden. Die EU-Außenpolitik bestimmt dabei vornehmlich der Elysée-Palast in Frankreich, zusammen mit der Bundesregierung. Sie reproduzieren und verschärfen damit die strukturellen Probleme im Land und ignorieren die Forderungen der Bevölkerung. Ein hochgerüsteter nationaler Sicherheitssektor, Notstandsgesetzgebung, bewaffnete Milizen und entgleister internationaler Druck zur Repression der Proteste bergen enormes Konfliktpotenzial.

Anhaltende Proteste
Revolution! Revolution! Revolution! Die wuterfüllten Rufe durchdringen die Straßen des Libanon. Die sog. Oktoberrevolution, eine interkonfessionelle und klassenübergreifende Massenbewegung durchzieht das Land. Die Protestierenden begehren seit Oktober 2019 gegen ein neoliberales, ausbeuterisches System auf, das ihnen öffentliche Räume, Bildung, Arbeitsplätze, Ersparnisse, Renten, soziale und politische Teilhabe raubt. Sie fordern die Abschaffung des an konfessionellen Linien ausgerichteten Herrschaftssystems und die Verbannung der gesamten politischen Klasse aus der Regierung.
Seit Beginn versucht letztere die Proteste mit Knüppeln, Gummigeschossen, Blendgranaten, Tränengas und tödlichen Schusswaffen – die libanesischen Spezialeinheiten sind mit G36-Gewehren von Heckler & Koch ausgestattet – niederzuschlagen und die weitere Neoliberalisierung des Landes abzusichern. Mindestens zehn Menschen wurden von den Sicherheitsbehörden getötet, über tausend verletzt.
Die Proteste waren zuletzt durch den Rücktritt des Ministerpräsidenten Saad Harriri und die Neubesetzung der Ministerien unter Premierminister Hassan Diab abgeflacht. Eine Tendenz, die sich durch den Ausbruch von ­COVID-19 und der damit einhergehenden, staatlich angeordneten Ausgangssperre weiter verstärkte. Nach der Explosion am Hafen von Beirut Anfang August flammten die Proteste erneut auf – ebenso wie die Repression gegen die Bevölkerung.

Das Massaker am Hafen von Beirut
Die Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat am 4.August 2020 hinterließ einen Krater von etwa 43 Metern Tiefe und zerstörte den Haupthafen des Landes. Bisherige Bilanz?: Mehr als 190 Menschen starben, mehr als 6500 wurden verletzt, etwa 300000 Menschen sind obdachlos und das größte Getreidesilo des Landes ist zerstört. Das ist besonders tragisch, denn durch die stetige Neoliberalisierung seit den 1990er Jahren ist der Libanon bei allen Grundgütern auf Importe angewiesen. Nahrungsmittelimporte machen 85 Prozent der Lebensmittelversorgung aus. Mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung wird am Ende des Jahres keine gesicherte Nahrungsmittelgrundversorgung mehr haben.
Um die Situation unter Kontrolle zu halten, findet sich seit der Explosion verstärkt fremdes Sicherheitspersonal in Beirut ein. Kriegsschiffe aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien legen am Hafen an. Der französische Präsident Emmanuel Macron schickte zusätzlich etwa 400 französische Militärs, zwei Rafale-Kampfjets wurden zum Luftwaffenstützpunkt auf Zypern beordert. Französische Forensiker und das FBI untersuchen in Beirut die Ursachen der Explosion.
Dies führte zu einem Wiederaufkeimen der Unzufriedenheit, die an die Massenmobilisierung von 2019 anknüpft. Blockaden wurden errichtet, das Parlament verbarrikadiert, Ministerien eingenommen und die Auflösung der Regierung gefordert. Am 10.August 2020 trat der Premierminister Diab zurück. Das Parlament wurde aufgelöst, die Regierung arbeitet fortan in rein verwaltender Funktion.
Die Krise wollen EU und USA nutzen, um zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) lang geforderte Reformen mit Druck durchsetzen: Das Haushaltsdefizit soll durch eine Erhöhung der Kraftstoff-, Umsatz- und Mehrwertsteuer sowie über Sparmaßnahmen gesenkt werden. Dazu gehört auch ein Ende der Subventionen von Gütern des Grundbedarfs. Diese Maßnahmen werden die Lebenshaltungskosten, insbesondere für die ohnehin einkommensschwachen Bevölkerungsteile, weiter in die Höhe treiben.
Die Einführung förmlicher Kapitalsperren und die Abwertung des Libanesischen Pfunds würden diese Tendenz weiter verstärken, da sie unter anderem steigende Kosten für Importgüter zur Folge hätten. Zusätzlich droht eine Rekapitalisierung des Bankensektors, was die letzten Ersparnisse der Bevölkerung verpuffen lassen würde. Auch sollen Schulden restrukturiert und das Rentensystem reformiert werden, erklärt ein ehemaliger Ökonom des IWF. Letzteres würde die Rentenniveau noch weiter drücken.
Diese «Reform»forderungen sind Bestandteil imperialer Konterrevolution; sie verschärfen die miserable Lage der unteren Klassen weiter und sollen mit Repression und strukturellem Druck durchgesetzt werden.

Die Rückkehr der Kolonialherren
Insbesondere Frankreich lässt keine Chance politischer Einflussnahme ungenutzt. Bei seinem Besuch in Beirut am 6.August 2020 übernahm Macron eigenmächtig eine führende Rolle beim Organisieren «humanitärer Hilfe». Er lud zu einer virtuellen Geberkonferenz ein, auf der mehr als 250 Mio. Euro gesammelt wurden. Der deutsche Außenminister Heiko Maas nahm daran teil und betonte die Wichtigkeit wirtschaftlicher Reformen. David Hale, US-Unterstaatssekretär für politische Angelegenheiten, schloss sich an, die USA würden auf «systemische Reformen mit nachhaltiger finanzieller Unterstützung» reagieren. Zusätzlich verlangt er, deutlich auf die Hizbollah anspielend, die Regierung solle die Kontrolle über ihre Grenzen und Häfen sicherstellen.
Anstatt das System aus kolonialer Zeit abzuschaffen, schlägt Macron einen «Neuen Pakt» vor. Laut den libanesischen Medien basieren die Verhandlungen über eine neue Regierung auf einem Papier der französischen Regierung, das einer Reihe libanesischer Führungskräfte übermittelt wurde. Der libanesische Fernsehsender Al-Jadeed berichtet, Macron habe bei einem Telefonat mit dem libanesischen Präsidenten Aoun drei Kandidaten für den Posten des Premierministers vorgeschlagen, die angeblich in Absprache mit ehemaligen libanesischen Premierministern ausgewählt wurden. Einer der neuen Anwärter ist der Botschafter für Deutschland, Mustafa Adib. Längst hat er angekündigt, die Reformvorstellungen der EU, USA und IWF durchzusetzen.
Am 1.September traf Macron die Vertreter der wichtigsten politischen Koalitionen. Die Gespräche fanden hinter verschlossenen Türen statt. Seine Rede bei der anschließenden Konferenz wurde von französischen Kampfjets begleitet. In Formation überflogen sie das libanesische Staatsgebiet, während sie die Farben der libanesischen Flagge versprühten. Macron warnte eindringlich, ernsthafte Reformen müssten innerhalb weniger Monate umgesetzt werden, andernfalls riskiere die libanesische Regierung Strafmaßnahmen, einschließlich Sanktionen. Es sei «die letzte Gelegenheit für das System». Gleichzeitig griff er die Protestbewegung an: Es funktioniere nur «wenn die Straße weiß, wie sie eine Führungsfigur produzieren kann, die die Revolution anführt, und das System bricht». Im Dezember will er ein weiteres Mal nach Beirut reisen, um die Fortschritte zu überprüfen.
EU und USA sind Teil eines gesteuerten Deals zwischen Eliten, die eine «neue» Regierung am demokratischen Prozess vorbei bilden wollen. Frankreich, Deutschland und die USA agieren zwar nicht in offizieller Absprache, aber es besteht eine Interessenkonvergenz: den Markt für Profite ausbauen und geostrategische Kontrolle ausüben.
International stellen sich imperiale Akteure wie USA und EU Umsturzversuchen wie in Tunesien, im Irak, in Chile oder im Libanon konterrevolutionär entgegen. Demokratie und eine Wirtschaft für alle im Libanon lebenden Menschen ist jedoch nur in einer nichtkapitalistischen Wirtschaft möglich. Dafür braucht es eine starke Massenbewegung und internationale Solidarität.

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