Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2020

Ein Flüchtling aus Moria berichtet
dokumentiert

Es war eine richtige Maßnahme: Erst dadurch, dass die Flüchtlinge im Lager Moria auf Lesbos ihre unwürdigen und unerträglichen Unterkünfte in Brand gesetzt haben, ist die Politik aufgeschreckt und sieht sich bemüßigt zu handeln, wenn auch in Trippelschritten.

Wenn jetzt nicht auf europäischer Ebene breite Protestaktionen folgen, wird das Ganze jedoch wieder im Sand verlaufen. Aus Moria hat uns der Bericht eines Flüchtlings erreicht, dem nichts hinzuzufügen ist.
Nachdem Moria niedergebrannt ist, stecken wir hier fest und hoffen, dass wir bald verlegt werden. Wir müssen an einen sicheren Ort gebracht werden, an dem unsere Grundbedürfnisse als Menschen befriedigt werden. Im Augenblick geschieht dies nicht. Viele Menschen leiden.
Heute fand eine Demonstration der Leute statt mit Transparenten, auf denen «Freiheit» stand. Um zu verstehen, warum wir das schreiben, müssen wir unsere Erfahrungen der vergangenen Tage erzählen. Wir sind insgesamt etwa 13000 Menschen. Frauen, Kinder, Behinderte, Familien, Säuglinge, alte Menschen und junge Männer. Nur unbegleitete Minderjährige sind an einen sicheren Ort gebracht worden. Wir haben auch gehört, dass alleinstehende afrikanische Frauen gestern an einen unbekannten Ort gebracht wurden.
Wir sind nach Europa gekommen, weil wir dem Krieg und der Verfolgung in unseren eigenen Ländern entkommen sind. Man konnte dort kein normales Leben führen, aber jetzt erleben wir erneut, dass wir kein normales Leben führen können. Unser Ziel war Europa, ein Kontinent, von dem wir dachten, er würde uns die Chance auf ein Leben in Frieden bieten. Stattdessen wurden wir in Moria untergebracht, wo es an allem fehlt, und jetzt schlafen wir im Dreck oder auf der Straße unter freiem Himmel. Vielen von uns fehlen Zelte, Decken, Schlafsäcke. Wir haben nichts, womit wir uns bedecken können, nicht einmal eine Jacke, die wir anziehen können, um uns vor der nächtlichen Kälte, vor dem Wind und vor dem Eindringen in unsere Privatsphäre zu schützen. Einige ziehen sogar die Toten den Lebenden vor und schlafen auf dem Friedhof. Heute haben andere damit begonnen, sich am Straßenrand aus nahen Bäumen und Zweigen einen eigenen Unterschlupf zu bauen. Viele von uns haben noch keine Zelte erhalten, und wir können nicht mehr auf diese Hilfe warten… Wir fühlen uns auf uns allein gestellt, und deshalb bauen wir unser eigenes Haus aus allem, was uns zur Verfügung steht, weil unsere Kinder diese Behandlung nicht mehr ertragen können.

Viele Demonstrationen haben stattgefunden. Wir hören von antifaschistischen Demonstrationen. Wir hören von Einheimischen, die Flüchtlinge nicht mögen, die sich auf den Weg zu uns machen um uns anzugreifen, oder aus Angst vor einem neu zu errichtenden Lager die Straße nach Moria blockieren. Auch wir selbst haben demonstriert.
Heute haben wir demonstriert, weil wir, nachdem wir mehreren Bränden entkommen sind, jetzt obdachlos und verwundbar auf Hilfe seitens der EU, von Griechenland, von der UNO, von internationalen Organisationen und von NGOs warten.
Heute haben wir keine Nahrungsmittel erhalten. Einige haben seit Tagen nichts gegessen. Einige Lebensmittel wurden gestern abgegeben, aber da es keinen Plan gab, wie sie verteilt werden sollten, stürmten die Menschen dorthin und ein Großteil der Lebensmittel wurde zerstört. Heute hören wir, dass uns eine NGO Lebensmittel bringen wollte, aber sie sind nicht gekommen. Angeblich liegt es daran, dass sie nicht an den Polizeiblockaden vorbeikamen, die errichtet wurden. Deswegen sind wir jetzt hungrig und es fehlt uns an Wasser zum Trinken und Waschen, unsere Kinder leiden wirklich. Es gibt keine Toiletten und keine Duschen. Die Menschen tragen immer noch die Asche des Feuers mit sich herum, denn wo können sie sie abwaschen? Verwundete, die medizinisch behandelt werden müssen, werden nicht ausreichend versorgt. Man sagt, dass es auch hier schwierig ist, die Blockaden zu überwinden.

Wir sehen auch, dass viele Journalisten eingetroffen sind. Wir sehen sie hier am Straßenrand, wie sie mit den Menschen reden. Sie laufen um die Menge herum und fragen nach diesen Geschichten, die für uns sehr schwer zu erzählen sind. Wir teilen ihnen unser Leid mit, aber wir befürchten auch, dass irgendwelche Menschen COVID-19 übertragen und verbreiten könnten. Daher haben wir Angst, dass Journalisten und andere, die zu uns kommen, vielleicht infiziert sind oder werden. Wir sind zwar sehr froh darüber, dass unsere Lage von der Welt nicht vergessen wird, aber wir bitten auch alle, die zu uns kommen, ihre eigene Gesundheit ernst zu nehmen, damit sie unsere eigene nicht beeinträchtigen. Bekanntlich sind alle unsere Behandlungs- und Quarantänezentren niedergebrannt und zerstört. Wohin werden wir also gehen, um uns behandeln zu lassen, wenn wir krank werden? Corona würde mit Sicherheit die anderen Probleme noch verschlimmern.
Wir sehen, dass viele Menschen kommen wollen, um zu helfen, aber wir brauchen nicht mehr Freiwillige. Wir brauchen Fachleute! Fachleute, die sicherstellen, dass wir versorgt werden. Wir sehen deutlich, dass hier ein Mangel an Struktur ist. Wenn jemand Lebensmittel mitbringt, muss es einen Plan geben, wie man sie zu uns bringen kann, aber auch, wie diese Lebensmittel verteilt werden können… Sie können nicht auf dem Boden liegen bleiben, so dass alle herbeistürmen und sich nehmen können, was sie wollen, denn auf diese Weise erhalten viele von uns keine Lebensmittel.
Wir bitten darum, mit allen Hilfsorganisationen auf der Insel zusammenzuarbeiten. Wir sehen auf Facebook, dass viele Menschen eine Menge Geld bekommen, aber wir sehen nicht das Ergebnis davon. Wir sind immer noch hungrig, wir leben immer noch auf der Straße, deshalb können wir nicht verstehen, wie mehr Geld in dieser Situation helfen kann, wenn so wichtige Dinge wie Unterkunft und Nahrung uns nicht erreichen. Wenn Geld für Lebensmittel, Unterkunft und Hilfe uns im Moment nicht erreichen kann, müssen neue Lösungen gefunden werden, denn wir leiden hier und wollen nicht Opfer von Gier werden.
Wirklich, jeder hier leidet so sehr, deshalb demonstrieren wir. Im Moment sind unsere Körper und unsere Stimmen das einzige, was uns noch bleibt. Wie lange müssen wir das noch ertragen?? Sind wir keine Menschen?? Gerade jetzt warten wir hier darauf, wie wir sterben können, sei es durch Hunger, Selbstmord oder Krankheit.

«Protestiert nicht gegen mich, ich bin ein Flüchtling. Ich protestiere gegen diejenigen, die mich zum Flüchtling gemacht haben. Vielen Dank an die griechische Regierung und die Europäische Union für das, was sie den Flüchtlingen angetan haben. Das Problem des Lagers in Moria ist nicht gelöst worden, und die Menschen auf der Straße haben jetzt nichts anderes als die Kälte der Nacht und die Hitze des Tages.»

Ali, Moria White Helmets, 11.9.2020

www.standbymelesvos.gr

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