Proteste gegen Corona-Maßnahmen sind anschlussfähig für Faschisten
von Ulla Jelpke
Es waren Bilder, die um die Welt gingen: Hunderte Faschisten mit schwarz-weiß-roten Reichsfahnen übersprangen am 29.August die Sperrgitter vor dem Reichstagsgebäude und besetzten kurzfristig die Freitreppe vor dem Sitz des Bundestags, ehe sie von der Polizei wieder vertrieben wurden.
Die Treppenstürmer kamen von der Kundgebung einer Reichsbürgergruppe auf der Wiese vor dem Gebäude.
Es war eine von mehreren Versammlungen im Umfeld eines Großaufmarsches der sog. Querdenker und Corona-Rebellen. Als solche bezeichnen sich die Leugner einer Corona-Pandemie und Gegner der staatlichen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung. In den Tagen zuvor hatten faschistische Gruppierungen bereits in sozialen Netzwerken von einem «Sturm auf Berlin» beziehungsweise «Sturm auf den Reichstag» phantasiert. Doch die einseitig auf die Feindbilder «Linke» bzw. «Antifa» eingeschworene Polizei hatte solche Drohungen offenbar nicht ernst genommen, sodass im fraglichen Moment nur drei Polizisten das Gebäude bewachten.
Wesentlich gefährlicher als die symbolträchtigen Bilder auf der Reichstagstreppe ist die an diesem Tag deutlich gewordene Akzeptanz von Faschisten aller Couleur durch die sog. Querdenker. Mehrere tausend Faschisten – darunter führende Köpfe wie der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke, der Verleger des extrem rechten Compact-Magazins Jürgen Elsässer, der Frontmann der völkischen Identitären Bewegung, Marin Sellner, und der Holocaustleugner und selbsternannte «Volkslehrer» Nikolai Nerling waren ebenso darunter wie Mitglieder der NPD und der Nazikaderpartei III.?Weg. Ein Block von AfD-Mitgliedern führte Dutzende Bilder von Kanzlerin Merkel, dem bayerischen Ministerpräsidenten Söder, dem Virologen Christian Drosten und US-Multimilliardär Bill Gates, kritischen Journalisten und anderen in gestreiften Sträflingsanzügen mit dem Aufdruck «Schuldig» mit sich.
Außer Reichsbürgern, die russische und US-Fahnen neben ihren schwarz-weiß-roten Reichsfahnen schwenkten, waren die Anhänger des aus den USA stammenden antisemitischen Verschwörungsmythos QAnon präsent, die US-Präsident Trump und seinen russischen Amtskollegen Putin als Verbündete im Kampf gegen einen «tiefen Staat» aus Kinderblut trinkenden Eliten verehren.
Kundgebungsanmelder Michael Ballweg von Querdenken711 aus Stuttgart distanziert sich zwar verbal von «Rechts- und Linksextremen», will aber gar keine Rechtsextremen auf der Kundgebung gesehen haben. Gleichzeitig übernehmen Teile der Querdenker-Bewegung die abstrusen Thesen der Reichsbürger, wonach Deutschland nicht souverän und das Grundgesetz Besatzungsrecht sei. So bezeichnete auch Ballweg ein schließlich verbotenes Querdenker-Camp anmaßend als «verfassungsgebende Versammlung». Querdenken-Sprecher Stephan Bergmann kommt selbst aus dem Reichsbürgermilieu. Nach der Demo verbreitete Bergmann ein von ihm aufgenommenes Interview mit dem «Volkslehrer» Nerling, in dem dieser eine Militärdiktatur für Deutschland fordert.
Andockpunkte für Faschisten
Tatsächlich war die Forderung nach einem Ende aller staatlichen Maßnahmen gegen die als völligen «Fake» bzw. «nur eine harmlose Grippe» bezeichnete Corona-Pandemie für viele Teilnehmer der bundesweiten Proteste am 29.August bereits zugunsten der Forderung nach dem Sturz des «Merkel-Regimes» sowie der «Souveränität» für Deutschland in den Hintergrund gerückt.
Die Masse der mehreren zehntausend Demonstrantinnen und Demonstranten, darunter zahlreiche Impfgegner, Esoteriker und Hippies, waren sicherlich keine Faschisten. Doch deren Anwesenheit wurde immer wieder damit gerechtfertigt, jeder habe das demokratische Recht, seine Meinung zu äußern, man wolle sich nicht mehr in rechts und links spalten lassen.
Von Anfang an waren auf den Protesten der «Corona-Rebellen» auch Faschisten vertreten, wenn auch erst in kleinerer Zahl. Die Bundesregierung zählte in den vergangenen Monaten rund 90 direkt von Rechtsextremisten organisierte Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen, ein Großteil davon allerdings nur mit wenigen dutzend Teilnehmern. Erst nach der Großdemonstration vom 1.August, auf der eine im Vergleich zu den übrigen Demonstranten kleine Menge Faschisten ungestört mitmarschieren konnte, erkannte die extreme Rechte das Potential und mobilisierte massiv zur bundesweiten Querdenker-Kundgebung vom 29.August.
Auf den ersten Blick mag dies verwundern, scheint doch das dort vertretene, mehrheitlich eher einer Alternativszene entstammende Publikum nicht gerade eine klassische Zielgruppe der Faschisten zu sein. Doch bereits die historische Nazibewegung in den 20er Jahren entwickelte sich auch im esoterisch-lebensreformerischen, kleinbürgerlichen Milieu, an das sie mit ihrer völkisch-antisemitischen Ideologie leicht anknüpfen konnte. Ebenso können die heutigen Faschisten an wissenschaftsfeindliche und obskurantistische Tendenzen auf den Corona-Demonstrationen und den dort gepflegten Verschwörungsmythen mit antisemitischem Kern anknüpfen.
Soziale Forderungen, etwa nach höherem Kurzarbeitergeld, staatlichen Hilfen für Soloselbständige oder besseren Arbeitsbedingungen und höherem Gehalt für Pflegekräfte werden von den Querdenkern nicht erhoben. Es ist – mit Ausnahmen natürlich – eben nicht die Arbeiterklasse, die sich gegen die staatlichen Pandemiebekämpfungsmaßnahen erhebt, sondern ein angesichts seines drohenden sozialen Absturzes wild gewordenes kleinbürgerliches Milieu. Diese kleinen Unternehmer und Freiberufler sehen hinter jeglicher staatlichen Gängelung – von Steuern über Tempolimits bis zur Maskenpflicht – einen Angriff auf ihre individuellen Freiheitsrechte. Die «Freiheit», die die Corona-Rebellen einfordern, ist die egoistische Freiheit der – vermeintlich – Starken ohne Rücksicht auf die Schwachen. An eine solche, ebenso neoliberale wie sozialdarwinistische Haltung können Faschisten leicht andocken.
Sicherlich ist die derzeitige Protestbewegung gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen viel zu bunt und in sich zu widersprüchlich, um als Ganzes zu einer faschistischen Bewegung zu werden. Doch die Faschisten können es bereits jetzt als Erfolg verbuchen, als legitimer Bestandteil einer breiteren Protestbewegung akzeptiert zu werden, die sich in Teilen sogar gänzlich abstruse Reichsbürgerpositionen zu eigen gemacht hat. Wenn sich der wirtschaftliche Einbruch im Zuge der Corona-Krise verschärfen sollte und es zu einer Pleitewelle kommt, könnten Faschisten nochmal ganz anderen Zulauf bekommen.
Die Linke wäre gut beraten, sich auf so eine Situation vorzubereiten. Denn mit einem «Nazis raus» gegenüber Corona-Leugnern ist es schon jetzt nicht getan. Gefragt ist eine eigenständige linke Politik, die die sozialen Forderungen der Opfer der Corona-Krise aufgreift und Grundrechtseinschränkungen im Namen der Pandemiebekämpfung kritisch prüft, anstatt sich zum linken Feigenblatt der Regierungspolitik zu machen. Klassenkampf hört in der Pandemie nicht auf – im Gegenteil.