Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2020

Die EU-Kommission hat eine Mindestlohninitiative angekündigt
von Özlem Demirel

Mindestlohn. Deutschland kennt ihn als gesetzlich festgeschriebenen Anspruch aller abhängig Beschäftigten auf eine bestimmte Entlohnung je Zeitstunde.

In zwanzig weiteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist eine Lohnuntergrenze ebenfalls – in der Regel auf nationaler Ebene und von Ausnahmeregelungen einmal abgesehen – für alle Beschäftigten verbindlich festgesetzt, was als «universeller» Mindestlohn bezeichnet wird. Viele Länder West- und Südeuropas kennen solche gesetzlichen Lohnuntergrenzen schon seit den 70er Jahren. In Frankreich und Luxemburg reichen sie sogar bis in die 50er, respektive 40er Jahre zurück. In den osteuropäischen EU-Ländern wurden sie nach der Wende in den 90ern eingeführt. Dort kommen Mindestlohnvereinbarungen vielfach durch Verhandlungen zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat zustande.
Anders in Dänemark, Finnland und Schweden sowie Österreich, Italien und Zypern. Sie haben lediglich bereichsbezogene Mindestlohnregime, in denen – mit der Ausnahme von Zypern – der Mindestlohn tarifvertraglich ausgehandelt wird. In Zypern ermächtigt ein Gesetz von 1941 die Regierung, für bestimmte Berufsgruppen gesetzliche Mindestlöhne festzulegen.
Deutschland hat erst 2015 einen universellen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt. Lange Zeit standen ihm deutsche Gewerkschaften sehr skeptisch gegenüber, empfanden ihn als Eingriff in ihre Tarifautonomie. Dies änderte sich erst in dem Maße, in dem nach Jahrzehnten neoliberaler Politik und nach dem Sozialdumping der «Agenda 2010» in den 2000er Jahren tarifvertragliche Regelungen keine Gewähr mehr für flächendeckend armutsfeste Gehälter boten. Im Augenblick beträgt der Mindestlohn in Deutschland unzureichende 9,35 Euro. Er soll bis Mitte 2022 auf noch immer nicht rentenarmutsfeste 10,45 Euro ansteigen und damit weiterhin unter der offiziellen Armutsrisikoschwelle liegen. Gewerkschaften, WissenschaftlerInnen und DIE LINKE fordern deshalb eine schnelle Anhebung auf mindestens zwölf bzw. dreizehn Euro, die auch für Renten oberhalb des Existenzminimums ausreichen würden.

Wo wird was gezahlt?
Die Mindestlohnsysteme innerhalb der EU variieren also stark in der tatsächlichen Abdeckung der arbeitenden Menschen. Aber auch in der absoluten Höhe wie auch im relativen Verhältnis zur jeweiligen nationalen Armutsgrenze gibt es gravierende Unterschiede. Die Spanne reicht von 1,87 Euro Mindestlohn pro Stunde in Bulgarien bis zu 12,38 Euro in Luxemburg. Dafür, ob dieser Mindestlohn zum Leben reicht, ist die nationale Armutsgrenze ein Indikator. Sie liegt bei 60 Prozent des «Brutto-Median». Das ist der mittlere Lohn – 50 Prozent der abhängig Beschäftigten verdienen weniger, 50 Prozent verdienen mehr. Wer weniger als 60 Prozent dieses mittleren Lohns verdient, gilt als armutsgefährdet. Wo die Löhne allerdings insgesamt sehr niedrig liegen, reicht dieses Kriterium nicht aus.
Schon im Vergleich zum mittleren Lohn schneiden die Länder der Union schlecht ab. Nur Frankreich, Portugal und Schweden verfügen über einen Mindestlohn, der durchweg oberhalb der Armutsschwelle liegt. Frankreich liegt mit seinem SMIC (Salaire minimum interprofessionnel de croissance) von 61,6 Prozent an der Spitze, doch auch dort haben Gelbwesten unter anderem gegen den unzureichenden Mindestlohn rebelliert. Die französischen Gewerkschaften weisen richtig darauf hin, dass er nur sehr knapp über der Armutsrisikoschwelle liegt. In Slowenien, Rumänien und Bulgarien liegt er nicht mehr als 2,5 Prozentpunkte darunter.
In Italien, Finnland und Dänemark, Länder, in denen es keinen einheitlichen Mindestlohn gibt, liegen branchenspezifische Mindestlöhne teilweise unterhalb der Armutsschwelle, teilweise (Italien und Dänemark) auch deutlich darüber.
Den niedrigsten universellen Mindestlohn im Verhältnis zum mittleren Bruttolohn haben Tschechien (41,8 Prozent) und Spanien (41,2 Prozent). Auch der deutsche Mindestlohn liegt mit 45,6 Prozent nur im unteren Drittel. Das ist ein unhaltbarer Zustand für eines der reichsten Länder der EU.

Armut in der EU
Eine von mir in Auftrag gegebene Studie, «Zwischen Armutslöhnen und Living Wages: Mindestlohnregime in der Europäischen Union», legt nun zum ersten Mal einen kompletten Überblick über die aktuelle Mindestlohnsituation in der gesamten EU vor. Es handelt sich um eine umfassende Betrachtung und Analyse der verschiedenen Mindestlohnsysteme aller 27 EU-Staaten und Großbritannien. Autoren sind Prof. Dr. Thorsten Schulten, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt International vergleichende Lohn- und Tarifpolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans Böckler Stiftung, und Dr. Torsten Müller, zuständig für Tarifpolitik am Europäischen Gewerkschaftsinstitut, ETUI, in Brüssel. Aktuell wird in Brüssel und Straßburg viel über einen gemeinsamen Rahmen für Mindestlöhne diskutiert. Diese Debatte ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Resultat bestehender Auseinandersetzungen in den meisten EU-Mitgliedstaaten. In fast allen finden Kampagnen mit der Forderung nach höheren Mindestlöhnen statt. Getragen werden diese Diskussionen und Bewegungen vor allem von Gewerkschaften, aber auch von linken und progressiven Parteien. In Belgien und den Niederlanden beispielsweise streitet man für einen Mindestlohn in Höhe von 14 Euro; selbst in Luxemburg wird für eine strukturelle Erhöhung um zehn Prozent gekämpft. Dies sorgt nun dafür, dass die EU-Kommission politisch unter Druck gerät und gegebenenfalls mit einem Rechtsakt reagieren muss. Im Herbst/Winter dieses Jahres will sie einen Vorschlag für einen EU-Mindestlohnrahmen machen. Damit der aber wirklich etwas ändert und effektiv vor Armut schützt, braucht es erhebliche breitere Mobilisierungen – in Deutschland, den anderen Mitgliedstaaten wie auch auf EU-Ebene. Mit Ausnahme der skandinavischen Gewerkschaften, die sich gegen einen Rechtsrahmen für Mindestlöhne aussprechen, schlagen europäische Gewerkschaften und der Europäische Gewerkschaftsbund zwei zentrale Kriterien für einen EU-Rechtsrahmen für Mindestlöhne vor: Per Gesetz oder per Tarifvertrag festgelegte Mindestlöhne müssen mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns und 50 Prozent des Durchschnittslohns des jeweiligen Mitgliedstaates betragen. Bei einer solchen Regelung würden in allen Mitgliedstaaten die Mindestlöhne steigen – auch in Ländern wie Bulgarien, wo der mittlere Lohn insgesamt zu niedrig liegt. Zwar weisen die skandinavischen Gewerkschaften zurecht auf die Bedeutung von Tarifverträgen und Tarifbindung und zeigen sich skeptisch gegenüber der EU-Bürokratie, die in den vergangenen Jahren Tarifverträge ausgehöhlt und zerschlagen hat. Doch würde man es schaffen, eine solche Untergrenze in einem Rechtsrahmen durchzusetzen, würden Millionen prekär beschäftigte Menschen in der EU davon profitieren. Auch könnten dadurch der EU-Bürokratie die Hände gebunden werden, weiterhin Druck auf bestehende Tarifverträge und Mindestlohnregelungen auszuüben. Ob dieser Vorschlag so aus den Verhandlungen herauskommt, hängt davon ab, wie stark der Druck der Arbeitnehmerseite auf die EU-Institutionen sein wird. Bisher macht die Arbeitgeberseite den größeren Druck, sie will einen solchen Rahmen verhindern und fordert, mit Blick auf die Krise, ganz von einer EU-Mindestlohninitiative abzusehen. Was das bedeutet liegt auf der Hand: Insbesondere jetzt in der Krise möchte sie Löhne weiter drücken können. Doch die permanente Abwärtsspirale aus Sozial- und Lohndumping muss endlich unterbrochen werden, bevor sich die soziale Situation in der EU noch weiter zuspitzt. Bereits in der vergangenen Finanzkrise haben sich Armut trotz Arbeit wie auch prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse stark verbreitet. Ein von mir im Sommer auf den Weg gebrachter Initiativbericht zur Reduzierung der Ungleichheiten in Europa mit dem speziellen Fokus auf Armut trotz Arbeit* trägt Zahlen und Fakten zur Armutssituation in der EU zusammen und bietet eine Reihe von wichtigen Schlussfolgerungen an. Jeder zehnte Beschäftigte in der Europäischen Union kann von seiner Arbeit nicht mehr leben, rund 95 von 446 Millionen Menschen leben bereits in Armut oder sind von ihr bedroht, 20,5 Millionen davon befinden sich in einem Beschäftigungsverhältnis. Das sind die erschreckenden Kernzahlen.

Mindestlohn und Tariflohn
Früher galt noch: Das beste Mittel zur Bekämpfung der Armut ist ein sicherer Arbeitsplatz. Dieser Grundsatz ist schon lange überholt. Immer weniger Menschen können von ihrer Arbeit leben. Die Beschäftigten in Europa sind zum Spielball eines Lohnunterbietungswettbewerbs geworden. Gig-, Plattform- und Crowdworker, Schein- und Solo-Selbstständige, Ausgliederungen, Fremdvergaben, Subunternehmer, Sub-Unternehmer-Ketten oder Werkverträge – so heißen die Folterwerkzeuge aus dem Instrumentenkasten neoliberaler Wirtschaftspolitik. Folge ist seit Jahren ein Boom der Niedriglohnsektoren und der prekären Beschäftigung, nicht nur im Süden oder Osten, sondern auch in Mitteleuropa.
Ein EU-Mindestlohn-Rahmen, der sich an dem offiziellen Wert der relativen Armutsschwelle orientiert, wäre daher ein wichtiger erster Schritt. Die Stärkung von Tarifverhandlungen und Tarifvertragssystemen sind aber ebenso dringlich, denn im EU-Binnenmarkt wurden bisher Lohndumping begünstigt und Tarifvertragssysteme geschwächt. Insbesondere in den südeuropäischen Ländern hat die Troika-Politik komplette Tarifvertragssysteme zerschlagen. Als Ergebnis davon liegt die Tarifbindungsrate nur noch in sieben Mitgliedstaaten der EU über 80 Prozent, in 14 Mitgliedstaaten wird weniger als jeder zweite abhängig Beschäftigte von einem Tarifvertrag geschützt. Bereits jetzt ist etwas mehr als jeder fünfte Mensch in der EU von Armut betroffen oder bedroht. Es wird Zeit, dem offensiv entgegenzutreten.
Es wird Zeit, aktiv in die EU-Mindestlohndebatte einzugreifen und diese Debatte nicht lediglich in der EU-Blase zu führen, sondern verstärkt in den Mitgliedstaaten, den nationalen Gewerkschaften und in den Betrieben, in denen Menschen von prekärer Beschäftigung betroffen sind. Denn bisher ist nicht ausgemacht, was für ein Vorschlag konkret von der Kommission kommen wird. Klar ist, dass er unmittelbar Einfluss auf das Leben aller abhängig Beschäftigten haben wird, denn geregelte Mindestlöhne wirken sich nicht nur auf das Leben der Mindestlohnbeschäftigten aus, sondern auch auf Tarifverträge, die immer oberhalb dieser Mindestlohngrenzen liegen.

Özlem Demirel sitzt für DIE LINKE im Europäischen Parlament und ist dort Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

*https://oezlem-alev-demirel.de/wp-content/uploads/2020/06/mindestlohn-deustch-web-1.pdf.
**https://oezlem-alev-demirel.de/wp-content/uploads/.2020/07/1198318DE.pdf

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.