Vier Männer mit parallelen Interessen
von Serdar Kazak
Seit dem 27.September erfahren wir jeden Abend in den Nachrichten über anhaltende Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien.
Dabei ist es mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Berichterstattung geworden, immer wieder zu betonen, dass die Türkei das muslimische Aserbaidschan unterstützt und Russland hinter dem (christlichen) Armenien steht.
Diese vereinfachte Beschreibung der Situation ist leider so oberflächlich wie schematisch. Der Konflikt zeigt nicht die typischen Merkmale eines Stellvertreterkriegs, und die Situation ist weitaus komplizierter als die von zwei kleinen Ländern, die, unterstützt von zwei größeren Mächten, im Namen ihrer großen «Unterstützer» kämpfen.
Hinzu kommt, dass weder die türkisch-aserbaidschanischen noch die russisch-armenischen Beziehungen in der Geschichte je konfliktfrei waren.
Für die rechten sunnitischen Regierungen in der Türkei waren die schiitischen Aserbaidschaner immer ein Fremdkörper, und Nikol Paschinjan, der amtierende Premierminister von Armenien, der durch die sog. «samtene Revolution» von 2018 an die Macht kam, war niemals ein Vertrauensperson für Russland.
Wer beliefert wen?
Es gibt in der Region auch nicht viel zu holen. Das gesamte Gebiet Bergkarabach ist ziemlich arm an Bodenschätzen. Strategisch ist es auch nicht unbedingt ein Muss für beide Seiten. Also verfolgen wir tagtäglich nicht nur einen brutalen, sondern auch einen ziemlich erklärungsbedürftigen Krieg. Was macht er für einen Sinn? Werfen wir einen Blick auf die Bewaffnung, die militärische Stärke und die Aufrüstungsstrategie der kämpfenden Parteien. Das macht die gesamte Situation etwas deutlicher.
Armenien hat knapp 3 Millionen Einwohner und 45000 aktive Soldaten. Laut SIPRI-Bericht lagen die Rüstungsausgaben von Armenien im Jahr 2019 bei 625 Millionen US-Dollar. Das entspricht einem Anteil von 3,85 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Armenien importiert seine Waffen fast ausschließlich aus Russland und Serbien, einen winzig kleinen Anteil produziert es selber.
Armeniens Regierungschef Paschinjan stellt Russland kein gutes Zeugnis aus. Er pflegt sehr gute Beziehungen nicht nur zur armenischen Diaspora, sondern auch zu den Stiftungen des Milliardärs George Soros und hat kaum Hemmungen, die antirussischen Demonstrationen in Armenien zu dulden und zu unterstützen. Beim Thema Bergkarabach ist er als «Hardliner» bekannt. Im August 2019 sagte er provokativ: «Bergkarabach ist Armenien, punkt.»
Aserbaidschan dagegen hat etwas mehr als 10 Millionen Einwohner und 67000 aktive Soldaten. Die Militärausgaben dieses Landes betrugen im Jahr 2019 2,8 Milliarden US-Dollar, das ist der zweithöchste Militäretat unter den GUS-Staaten (hinter Russland) und entspricht einem Anteil von 4,6 Prozent seines Bruttoinlandprodukts. Im Jahr 2004 betrugen die Militärausgaben von Aserbaidschan erst 146 Millionen US-Dollar. Das Erdölland Aserbaidschan importiert Waffen aus mehreren Ländern. Das Heer wird weiterhin mit russischen Waffen ausgerüstet, aber besonderes bei der Modernisierung der Luftwaffe arbeitet man sehr gerne mit Israel zusammen. Waffen aus Israel machen fast 60 Prozent der Militärimporte Aserbaidschans aus.
Ilham Alijew, der Präsident von Aserbaidschan, ist der Sohn des ehemaligen Präsidenten Gaidar Alijew. Dieser war ab 1982 Mitglied im Politbüro der KPdSU als Schützling von Leonid Breshnew, später wurde er als Gegner von Gorbatschow bekannt und musste 1987 das Politbüro bis zur Unabhängigkeit von Aserbaidschan verlassen. In der postsowjetischen Zeit hat er seine Familiendynastie aufgebaut. In den 90er Jahren hat er einen Putschversuch des türkischen Geheimdienstes niedergeschlagen und einige faschistische Graue Wölfe, die für diesen Putsch nach Aserbaidschan geschleust wurden, standrechtlich hinrichten lassen. Damit hat er nicht nur der Türkei ihre Grenzen gezeigt, sondern auch unbegrenzte Macht in seinem Land erlangt. Nach seinem Tod 2003 wurde sein Sohn Ilham Alijew Präsident . Dieser hatte andere Ambitionen als sein Vater, er hat sein Land in eine starke Militärmacht verwandelt.
Selbst wenn man nur die Entwicklung der Militärausgaben der letzten zehn Jahre betrachtet, kann man zwei Dinge feststellen: 1. die Regierung von Aserbaidschan bereitet sich seit langem auf diesen Feldzug vor; und 2. die Religion spielt bei dem Waffenhandel – und somit für die militärische Unterstützung – keine große Rolle.
Eine kurze Geschichte des Konflikts
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ist einer der ältesten der Welt. Sein Ursprung reicht weit in die Geschichte zurück, doch der jetzige Konflikt, kann man sagen, hat im Jahr 1921 begonnen. Nach der Oktoberrevolution haben beide sowjetische Republiken Armenien und Aserbaidschan Anspruch auf Bergkarabach erhoben. Die damalige Sowjetregierung befand sich noch im Bürgerkrieg und hat relativ zentralistisch entschieden, Bergkarabach als autonomes Gebiet in die Aserbaidschanische Sowjetrepublik einzugliedern, obwohl das Gebiet mehrheitlich von Christen bewohnt war. Wenn TV-Kommentatoren über Bergkarabach reden und sagen: «Völkerrechtlich gehört das Gebiet zu Aserbaidschan», beziehen sie sich indirekt auf diesen Beschluss des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen und seines Vorsitzenden, Iossif Wissarionowitsch Dshugashwili (Stalin). Dabei darf man nicht vergessen: Es war kurz vor dem Ende des Bürgerkriegs und die Sowjetunion hatte andere, größere Sorgen. Die Verteidigung und die Versorgung des Gebiets waren viel wichtiger als die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung.
Die großen Nachbarn Russland und Türkei
Die Bevölkerung von Bergkarabach hegt zwar eher Sympathie für Armenien, doch Russland verhält sich viel ruhiger als sein Widerpart Türkei. Die russische Regierung ergreift auf keinen Fall direkt Partei und plädiert ununterbrochen für eine friedliche Lösung, auch wenn sie es nicht wirklich ernst damit meint. Der jetzige brüchige Waffenstillstand ist ein Ergebnis der Bemühungen Russlands.
Gleichzeitig schreiben die russisch-nationalistischen Internetseiten immer wieder und sehr gerne die Bruderschaft zwischen Russland und Armenien herbei. Sie vergessen dabei nicht, die armenischen Brüder zu mahnen, sie sollten antirussische Demonstrationen und Ressentiments im eigenen Land nicht dulden. Diese «Artikel» werden sehr gerne mit den Bildern von der «Samtenen Revolution» 2018 geschmückt und die Rolle des amtierenden Premierministers Nikol Paschinjan hervorgehoben.
Kurz gesagt, Russland hilft Armenien gerne, aber möchte nicht, dass die armenische Regierung mit den westlichen Mächten liebäugelt. Dafür ist so ein Krieg wirklich sehr hilfreich.
Die Türkei verhält sich in diesem dreckigen Spiel nicht so diplomatisch wie Russland. Eigentlich verhält sie sich wie ein Scharfmacher in einem Fußballkreisligaspiel. Doch von einer unüberlegten Politik kann auch nicht die Rede sein. Erstens hat die Türkei weniger Probleme mit der aserbaidschanischen Regierung und ihrem Präsidenten Ilham Alijew. Das Islamverständnis in Aserbaidschan und in der Türkei kann sich unterscheiden. In solchen Ämtern sitzt man aber nicht, um über den Islam zu philosophieren, sondern um eigene Interessen durchzusetzen.
Als Erdogan übertrieben scharfe kriegerische Texte vor laufenden Kameras vorlas, verhielt er sich so diplomatisch wie ein Elefant im Porzellanladen. Aber wenn man seine Beliebtheitsrate in der Innenpolitik anschaut, sieht man, dass dieses diplomatisch «falsche» Verhalten eigentlich ein ziemlich kluger Schachzug war. In keinem anderen Konflikt seit dem Zypernkrieg von 1974 hat ein Staatsoberhaupt in der Türkei eine so hohe Zustimmung erreicht wie bei diesem Krieg im Kaukasus, und das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist dabei für die Türkei viel günstiger als die kleinste Operation in Syrien oder im Irak. Das hat er diesem wiederbelebten Krieg zu verdanken.
Mit seiner innenpolitischen Kriegshetze befeuert er nicht nur die Faschisten im eigenen Land, sondern auch die Turkophobie in Armenien und hilft dadurch indirekt Putin, Armenien noch billiger an sich zu binden. Das größere Ganze ist ihm egal, Hauptsache, er kann seine endende Diktatur noch um einige Jahre verlängern.
Fassen wir zusammen: Vier Männer stehen auf der Bühne, Alijew und Paschinjan als die Hauptfiguren, Erdogan und Putin als Nebendarsteller. Alle vier haben große Gemeinsamkeiten. Alle vier haben in der letzten Zeit ziemlich häufig versagt. Alle vier haben überdimensionale Zahlen an Corona-Toten vorzuweisen, alle vier führen eine marode Wirtschaft, alle vier haben sinkende Beliebtheitsraten und keiner von ihnen könnte eine freie Wahl überleben.
Die Eigeninteressen dieser vier Männer laufen ziemlich parallel. Das macht die toxische Mischung in dieser Region für die Zivilbevölkerung noch tödlicher.
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