Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2020

«Die Polizei ist aggressiver, weil die Stimmung danach ist»
Gespräch mit Christian Mertens

Am Wochenende vom 26./27.September ging die Polizei mit erheblicher Brutalität und Willkür gegen die Demonstrierenden und Blockierenden vor.

Einer angemeldeten Demonstration wurde ohne rechtliche Grundlage die Route verweigert, zahlreiche AktivistInnen wurden durch den Einsatz von Polizeihunden und -pferden teilweise schwer verletzt, eine junge Aktivistin musste sich vor fünf männlichen Polizisten in der Gefangenensammelstelle Aachen nackt ausziehen, im Rahmen der Gewahrsamnahme wurden AktivistInnen 150 Kilometer weit verschleppt u.a.m. Bereits im Vorfeld der Aktionen wurden Leute aus Zügen und Bussen geholt. Auch gegen JournalistInnen ging die Polizei gewaltsam vor.
Ein Polizist wurde mit der Aussage zitiert: «Ich weiß, dass ich das nicht darf, aber ich mache es trotzdem.»
Über den Rückfall in den Obrigkeitsstaat sprach die SoZ mit CHRISTIAN MERTENS, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Köln. Seine Schwerpunkte liegen u.a. im (links-)politischen Straf- und Verwaltungsrecht.

Bei den Aktionen von Ende Gelände am am letzten Septemberwochende im Rheinischen Revier hatte ich den Eindruck, dass die Polizei erheblich repressiver und gewalttätiger vorgegangen ist als in früheren Fällen. Entspricht das auch Ihrer Wahrnehmung?

Mir haben tatsächlich mehrere Leuten gesagt, dass die Polizei teilweise unverhältnismäßig eingegriffen hat. Die Bereitschaft der Polizei zu Übergriffigkeiten ist in den letzten Jahren gestiegen und es gibt kein richtiges Korrektiv mehr.

Was heißt das? Was könnte ein solches Korrektiv sein?

Das richtige Korrektiv wären die Verwaltungsgerichte, die dazu da sind, das Verhalten der Polizei zu überprüfen. Klagen bei den Verwaltungsgerichten haben allerdings aufgrund der Tatsache, wie dieses System aufgebaut ist, wenig Aussicht auf Erfolg. Im wesentlichen läuft es immer darauf hinaus, dass die Gerichte sehr viel durchgehen lassen mit der Begründung, die Polizei müsse ja mit Eilmassnahmen handeln, und teilweise auch Unsinniges erlauben. Ansonsten hängt der Erfolg der Klage immer sehr davon ab, dass ein Polizist sagt, ja, da hab’ ich Gewalt angewandt und ja, rückblickend muss ich sagen, das hätt ich wohl nicht tun dürfen.

Ich war im Rahmen dieser Aktionen bei der Demonstration in Hochneukirch. Diese Demonstration war völlig normal, ohne irgendwelche Vorkommnisse und sollte losgehen auf einer vorher vereinbarten Route. Da meinte die Polizei, diese Route ist jetzt nicht mehr genehmigt, wir müssen einen doppelt so langen Umweg machen. Das kann ja nicht sein, dass ich auf der einen Seite mit der Polizei als Anmelder was ausmache und dann Beamte vor Ort auf einmal sagen, ne, passt nicht.

Naja, natürlich hat die Polizei grundsätzlich diese Befugnis, wenn eine Gefahr droht oder wenn Straftaten drohen. Aber das Selbstverständnis der Polizei ist mittlerweile so, dass die Polizisten einfach grundsätzlich Gehorsam einfordern. Das wird flankiert durch ein deutlich schärferes Strafrecht, und die Gerichte bieten dem wenig Einhalt. Das politische und staatliche Selbstverständnis, das sich das mittlerweile Bahn bricht, ist deutlich konservativer und freiheitsfeindlicher als noch vor ein paar Jahren. Das ist schlicht und ergreifend eine politische Stimmung. Und diese Stimmung gibt es ja auch nicht nur in Deutschland.

Das ist ein Paradigmenwechsel gegenüber früher. Können Sie das näher erläutern?

Die öffentliche Stimmung wird stark beeinflusst von dem, was man political correctness nennt. Das hat Folgen. Eine davon ist, dass es mittlerweile offiziell «richtige» und «falsche» Ansichten gibt. Deswegen gibt es Leute, die der Meinung sind, der Kulturkrieg sei vorbei und die Richtigen hätten gewonnen. Etwa nach dem Motto: Jetzt ist klar, dass homosexuelle Menschen heiraten dürfen, deswegen ist eine gegenteilige Meinung einfach falsch. Und wenn das der Fall ist, dann wird auch nicht mehr darüber diskutiert. Bestimmte Meinungen werden einfach nicht mehr akzeptiert. Es gibt sie aber natürlich noch, sie dürfen nur nicht mehr öffentlich vertreten werden. Nur weil am Stammtisch oder in der Kneipe nicht mehr gesagt werden darf, dass alle Nordafrikaner Diebe und Vergewaltiger sind, heißt das nicht, dass diese Meinung bei bestimmten Leuten verschwunden ist. Die denken das immer noch, die sagen das nur nicht mehr.
Bei Politikern ist das genauso. Horst Seehofer hat früher gesagt, man müsse unser Sozialsystem bis zur letzten Patrone verteidigen. Das impliziert auch, dass man auf Leute, die hierher kommen, an der Grenze schießen muss, wenn sie rechtswidrig rüberkommen. Diese Meinungen sind nicht weg. Sie werden jetzt nur anders formuliert.
Wenn Sie dann die entsprechenden Leute bei der Polizei einsetzen, kommt dabei so etwas heraus wie bei einem ranghohen Polizisten in Hamburg, über den es in Rechtsanwaltskreisen heißt, er habe mal gesagt, der «Krieg bei Demonstrationen» wie G20 «wird nicht in den Gerichtssälen gewonnen, sondern auf der Strasse». Und natürlich finden rechte, konservative Meinungen in Organisationen, wo es um Befehl und Gehorsam geht, wo Sie staatstreu sein müssen, einen ganz besonders günstigen Nährboden. Wir haben eine Stimmung, die diese Einstellung der Polizei befeuert. Das erklärt, warum die deutsche Polizei trotz etlicher Skandale in der Vergangenheit immer noch von vielen Leuten als besonders vertrauenswürdig bezeichnet wird.

Sie sagen, wir kehren wieder zurück zum Obrigkeitsstaat. Beißt sich das mit dem, was wir bisher als Rechtsstaatlichkeit empfunden haben?

Zum Beispiel?

Dieses Denken scheint mir nicht kompatibel ist mit dem, was bisher als Demonstrationsrecht ausgelegt wurde. Da sehe ich einen gewissen Widerspruch. Die Frage ist, wie kann ich mit diesem Widerspruch umgehen?

Ja, den Widerspruch gibt es, und da ist dann die Frage, wie der Rechtsstaat damit umgeht. Das ist letzten Endes die entscheidende Frage. Sagen die Gerichte, sagt das Bundesverfassungsgericht, sagen vielleicht auch aufrechte Beamte in der Polizei, ne, machen wir nicht, Demonstrationsrecht ist Demonstrationsrecht, das dürft ihr nicht liebe Polizisten, oder nehmen wird das schulterzuckend hin. Genau da treffen ja die beiden Mühlsteine aufeinander.

Welche Möglichkeiten haben wir, dagegen vorzugehen?

Sie haben letzten Endes nur die Möglichkeit, immer und immer wieder den Rechtsstaat zu bemühen, also gegen jede Massnahme der Polizei, die Sie für gesetzwidrig halten, zu klagen. Und damit bleibt es wieder beim Einzelnen hängen. Wenn dann Anwaltskollegen erfolgreich etwa gegen Abschiebebescheide vorgehen, heißt es, das ist die Abschiebeverhinderungsindustrie. Das sind dann aber keine Sätze von Klaus Müller, sondern das ist ein Satz eines Bundesministers. Dafür müsste muss man ihn sofort aus der Bundespolitik entfernen, weil er dafür offenbar nicht geeignet ist. Aber so ist die Stimmung.

Brauchen wir eine Bewegung gegen die Polizei wie in den USA?

Nein. Was wir brauchen, ist die Bereitschaft und die Fähigkeit von den Leuten die meinen, sie hätten den Kulturkrieg gewonnen, diesen Sieg zu moderieren und zu kommentieren und zu erklären. Es nutzt nichts, in einer Diskussion, in der jemand sagt, er fände es anstrengend, dass so viele Neger hierher kommen, diesen Typen zusammenzuschreien und ihm vorzuhalten, das dürfe er nicht mehr sagen. Ich muss ihm erklären, warum er dieses Wort nicht verwenden soll. Ich darf nicht nur urteilen, ich muss den Leuten erklären, warum ihre Meinung nicht richtig ist, und versuchen sie zu überzeugen, dass sie meiner Meinung folgen. Sonst wird diese Meinung nicht verschwinden – und da landen, wo sie besonders gefährlich ist.

Was bedeutet das in Bezug auf das Demonstrationsrecht beim Kohleausstieg?

Ich muss den Leuten klarmachen, dass der Kohleausstieg richtig ist und dass ich, so wie ich demonstrieren möchte, auch demonstrieren darf. Das beinhaltet auch, dass ich notfalls klage und mich beschwere. Da muss ich eben drum streiten und notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. Und wenn das Bundesverfassungsgericht mir nicht recht gibt, muss ich eben auf die Barrikaden gehen und immer wieder erklären, warum das falsch ist, was das Bundesverfassungsgericht da entschieden hat. Es nützt nichts, sich schmollend in eine Ecke zurückzuziehen und zu sagen, die sind alle doofe Trottel bei der Polizei – und es dann doch geschehen zu lassen. Streit muss ausgefochten werden, das ist der Punkt. Das ist anstrengend, das ist jeden Tag wieder anstrengend.

Sind im Nachklapp zu den Aktionen von Ende Gelände Klagen anhängig?

Das kann ich Ihnen aus dem Kopf gar nicht sagen.

Das ist interessant. Ende Gelände veröffentlicht eine lange Liste mit den Verstössen der Polizei und dann soll keine Klage anhängig sein?

Das ist ja was ich sage. Das ist das Problem.

Das hinterlässt mich einigermaßen ratlos. Ich war schon davon ausgegangen, wenn es Rechtsverstösse gibt, wird dagegen geklagt.

Meine Gegenfrage: Sie waren vor Ort?

Ja.

Haben Sie geklagt?

Nee – da haben Sie recht.

Es muss sich immer jemand finden, der das tut, der muss das Geld bezahlen, muss sich einen Anwalt holen, verliert vielleicht nach drei Instanzen und hat dann mehrere tausend Euro Gerichtskosten am Hals. Der Rechtsstaat sorgt schon dafür, dass nicht jeder ständig klagen kann.

Stimmt.

Das war nicht böse gemeint. Es gibt ganz viele Leute, die sich über sowas aufregen, die aber dann sagen, ich weiß nicht, lohnt es überhaupt den Aufwand? Oder man hat Angst, dass die Polizei einen plötzlich auf dem Kieker hat. Oder man will nicht die Zeit investieren. Oder nicht das Geld. Oder man erfährt erst nach sechs Monaten, dass man nur ’ne einmonatige Klagefrist hatte. Ich kenn das ja selber, ich reg mich auch jeden Tag über Dinge auf und denke, Mensch, da müsstest du eigentlich mal was machen. Und dann sind wir in der Situation, in die uns der Kapitalismus gebracht hat, dass nämlich politisches Engagement, Arbeitszeit und soziale Freizeit ganz häufig miteinander konkurrieren. Wir haben nicht Zeit für alles. Sigmar Gabriel oder Andreas Scheuer werden dafür bezahlt, dass sie ihren politischen Unsinn verbreiten. Und Sie werden dafür bezahlt, dass Sie’s nicht tun.

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