Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2020

Eine Tochter des 20.Jahrhunderts
von Salvatore Cannavò

Rossana Rossandas Leben ist vollständig verwoben mit dem Jahrhundert, das sie durchlebt hat.

Rossana Rossanda wurde 1924 in Pola, Kroatien, geboren. Nach dem Erdbeben von 1929 zog sie nach Mailand, wo sie Literatur studierte. Hier traf sie auf den Marxismus von Antonio Banfi, er war «das Gegenteil des Determinismus, auf den Marx reduziert wird, das Gegenteil einer Teleologie». Er lehrte sie kritisches Denken, mit dem sie später in die Italienische Kommunistische Partei (PCI) eintrat – nach einer Lehrzeit in der Resistenza, in der sie als Kurierin zwischen Mailand und Como pendelte, in das sie evakuiert worden war und von wo aus sie im Zug Pakete und geheime Botschaften mitreisen lassen konnte. In die Partei trat man damals ein, «weil sie an einer anderen Geschichte arbeitete, jener die siegreich, wenn auch nicht erfolgreich aus der Resistenza hervorgegangen war». Die Kommunistische Partei, die Rossana kennenlernte, war bevölkert von Männern und Frauen, denen «ihre eigene Geschichte nicht mehr willkürlich und verzweifelt vorkam, sondern im Rahmen eines von Fortschritten und Rückschritten geprägten Weltgeschehens einen Sinn bekam».
Dann gab es die Führungszirkel, die Auserwählten, zu denen auch sie gehören wird, aber es waren die «aus dem Souterrain, die nach Feierabend von Abteilung zu Abteilung oder von Haus zu Haus gingen, um die Mitgliedsmarken einzusammeln und innerhalb der bestehenden eine Parallelgesellschaft bildeten». Das «Land im Land», wie Pier Paolo Pasolini in den 70er Jahren sagen wird, prägte die Vorstellungskraft und Erfahrungen derer, die sich wie Rossana auf ihr direktes Eingreifen in die Welt vorbereiteten – zuversichtlich in die Zukunft blickend wie ihre ganze politische Generation, sei sie kommunistisch oder sozialistisch orientiert.

Das Kulturhaus
Ab 1947 begann sie mit der «politischen Arbeit», zunächst im Verein für kulturelle Beziehungen zwischen Italien und der Sowjetunion, dann ein wenig vor den Werkstoren von Autobianchi in Mailand, schließlich im «Kulturhaus», dem natürlichen Landeplatz für solche, die dank ihrer intellektuellen Fähigkeiten schon mit 17 Jahren auf die Universität gehen.
In diesem Kulturhaus wurde mit Enrico Rame, dem Bruder von Franca Rame, der gesamte Brecht gelesen, [der Schauspieler] Vittorio Gassman schaute vorbei und «[der Theaterregisseur Giorgio] Strehler war hier zu Hause». So entstand das politische und kulturelle Profil der Partei, das Banfi an der Universität vorgezeichnet hatte. In dem Milieu der PCI, das geprägt war durch den Shdanowismus, der aus Moskau herüberkam, und der direkten Intervention der Partei in das kulturelle Schaffen, entwickelte Rossana ein autonomes, freies Denken, das jedoch immer das gemeinsame Haus, in dem sie kämpfte, respektierte – ein Zwiespalt, der zum Merkmal ihrer Biografie und Grundton einer unruhigen Seele auf der Suche nach Auflösung des inneren Konflikts werden wird.
Der Faden riss 1956 mit Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Verbrechen und mit der blutigen Niederschlagung des ungarischen Aufstands. Da war, so schreibt sie, «die Zeit der Unschuld vorbei». Parteitreu hielt sie das Kulturhaus offen, lief nicht vor Konfrontationen davon, «aber in der Partei war es nie mehr wie zuvor».
Etwas geht kaputt, aber das politische Leben geht weiter, auch die Kulturarbeit. Es sind Jahre, in denen man mit Sartre und Adorno diskutiert. Das interessanteste Jahrzehnt steht vor der Tür, es ändern sich die Sitten, die Ideen, eine neue politische Generation drängt mit Macht auf die Bühne. Rossanda ist sich dessen bewusst, die Partei viel weniger, sie bleibt gefangen in ihren bürokratischen Ritualen. Aber es ist immer noch die große Partei der Arbeitenden und des Volkes, die bei den Wahlen 1963 und 1968 einen großen Sprung nach vorn macht. Zur Zeit der Mitte-Links-Regierung von Aldo Moro [1963–1968] ist Rossanda Parlamentsabgeordnete, nationale Kulturbeauftragte der Partei und mit der Beziehung zu den Intellektuellen betraut. Sie zieht nach Rom, trifft die Führungsgruppe der PCI und hat eine nichttriviale Beziehung zu Palmiro Togliatti.
Die UdSSR wird «stillschweigend beiseite geschoben». In der Partei ist sie eine Führungsperson, aber sie wird kaum als solche behandelt, sie ist die «jüngste unter den Männern der PCI», wird in das legendäre ZK berufen. Sie arbeitet mit jungen Menschen, die die politische Geschichte der 80er und 90er Jahre prägen werden: Achille Occhetto, Lucio Magri, Alfredo Reichlin und Sergio Garavini. Rossanda wird sich später Occhettos Entscheidung, den Namen der PCI aufzugeben, widersetzen und sich niemals mit der anfänglich von Garavini geführten Rifondazione Comunista anfreunden.
Die Kulturarbeit begeistert sie, sie versucht, die Beziehungen der Intellektuellen zur Partei zu verbessern, indem sie die «Phase der proletarischen Kunst» beendet. Doch die PCI ist nicht mehr die ihre. Zwar wurde ihr erlaubt, im Theorieorgan der Partei, Rinascita, den berühmten Brief Antonio Gramscis von 1926 zu veröffentlichen, in dem dieser die KPdSU dafür kritisiert, wie sie Trotzki behandelt hatte, einschließlich einer Antwort von Togliatti an Gramsci. «Ich habe auch die Notiz, die mir Gramsci als Antwort hinterlassen hat. Lasst uns alles veröffentlichen» meinte er zu ihr. Und es wurde alles veröffentlicht, aber die Debatte hinterließ in der Partei nie eine Spur, nichts passierte.

Il Manifesto
Nach dem Tod Togliattis 1964 brach ein interner Krieg los, nicht so sehr um die Nachfolge, die eindeutig Enrico Berlinguer anvertraut werden sollte, sondern um die politische Linie – zwischen denen, die sich mit der PSI zusammentun wollten, und solchen wie Pietro ­Ingrao, die ein neues Modell des Parteiaufbaus anstrebten, das sich stärker an den neuen Bewegungen und den Arbeiterkämpfen orientierte. Rossanda stellte sich auf die Seite von Ingrao, der sich jedoch «nie wie ein politischer Führer bewegte». Er und seine Anhänger verloren, sie wurden aus allen Positionen im Apparat herausgedrängt.
Der Einmarsch in die CSSR wurde zwar verurteilt, aber nur als «tragischer Irrtum». Auf dem Parteitag 1968 gehörte Rossanda zu den ganz wenigen Delegierten, die sich gegen die Mehrheit der Partei stellten: «Wir sind hier versammelt, während die Armee eines Landes, das sich sozialistisch nennt, ein anderes sozialistisches Land besetzt.» Der Bruch war vollzogen, und als Magri und die anderen beschlossen, eine neue Zeitschrift zu gründen, befand die Partei, die rote Linie sei überschritten. Sie stimmte für ihren Ausschluss, auch Pietro Ingrao stimmte dafür, während Achille Occhetto und Sergio Garavini sie unterstützten. Die neu gegründete Zeitschrift Il Manifesto – Rossandas wertvollstes Vermächtnis – titelte in ihrer ersten Ausgabe: «Prag ist allein».
Die Geschichte von Il Manifesto ist eng mit Rossanda und ihrer Generation verbunden. Zunächst machte sie den Versuch, wie andere Gruppen der neuen Linken eine politische Partei zu gründen. Dann ging sie ein von Lucio Magri geführtes Bündnis mit der PdUP (Partei der proletarischen Einheit) ein – doch alles immer mit Blick auf die Mutterpartei, auf die gemeinsame Geschichte, aufmerksam für jede kleinste Bewegung, die eine Korrektur ihres Kurses signalisieren könnte.
Aus ihrer tiefen Verbundenheit mit dieser Welt entstand auch Rossandas zweiter großer Beitrag zum Verständnis der Zeitgeschichte, als sie die Geschichte der Roten Brigaden in das «Familienalbum» der kommunistischen Linken einfügte.
Die Roten Brigaden glichen weder der ETA noch der IRA, auch nicht der RAF oder der lateinamerikanischen Guerilla. Vielmehr waren sie, wie Rossanda im Vorwort zum Interview mit Mario Moretti, dem Mörder Aldo Moros, schreibt, Ausdruck der Überzeugung, dass die PCI «das Sammelbecken des ‹kommunistischen Parteivolks› ist, das jedoch etwas anderes ist als die Linie des Sekretariats, der Führung, des Zentralkomitees».
An dieser Vorstellung, dass die PCI jeweils etwas anderes ist, je nachdem, ob man sie von oben oder von unten betrachtet, scheiterten schließlich auch die politischen Experimente der neuen Linken. Damit etwas Neues entstehen konnte, bedurfte es des Schrittes von Occhetto [die PCI aufzulösen]. Il Manifesto und insbesondere Rossanda stemmen sich entschieden dagegen, ohne jemals das Abenteuer von Rifondazione Comunista mitzumachen. Wie Ingrao übrigens, der «im Strudel» bleiben wollte.
Doch dieser Strudel reißt alle mit, Orthodoxe wie Kritiker, daraus wird die Geschichte eines allmählichen Zerfalls, begleitet von vielen Fehlern, Illusionen, Anmaßungen und Unzulänglichkeiten. Über all das wird Rossanda im Laufe der Jahre wieder und wieder schreiben, aber immer mit den Augen einer, die die Niederlage bereits erlitten hat und weiß, dass sie nichts dagegen tun kann, auch wenn sie mit ihren alten Gefährten noch einmal versucht, zusammen mit Rifondazione Comunista und anderen Strömungen der Linken eine breite gemeinsame Alternative zur Partei der demokratischen Linken (PDS, Vorläuferin der PD) aufzubauen, die bereits voll auf dem Kurs von Tony Blair segelt. Es sind die frühen 2000er Jahre, und auch dieser Versuch scheitert.
Vielen Generationen war Rossanda eine «gute Lehrerin», eine, von der man lernen konnte, auch wenn man mit ihr nicht einverstanden war, denn sie hat ihre Ideen immer mit Ernst, Stringenz, Intelligenz und Weitsicht verteidigt. Wir werden sie sehr vermissen.

Quelle: www.jacobinitalia.it. Der Autor ist Vizedirektor von Il Fatto quotidiano und redaktioneller Leiter von Edizioni Alegre (https://edizionialegre.it).

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