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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2020

Die Rettungsmaßnahmen der Regierung halten den Niedergang des US-Kapitalismus nicht auf, sie verlängern ihn nur
von Ashley Smith

Bekanntlich war COVID-19 der Auslöser und Brandbeschleuniger, nicht die Ursache der derzeitigen weltweiten Rezession. Die drei Kraftzentren der Weltwirtschaft – China, die USA und die Europäische Union – zeigten schon vor Ausbruch der Pandemie alle Anzeichen einer sich anbahnenden Krise. Danach hat sie sich aber dramatisch verschlimmert.

In den USA zwang sie Bundesstaaten und Städte, über alle Wirtschaftsaktivitäten mit Ausnahme der «systemrelevanten» einen Lockdown zu verhängen.
Das Ausmaß der Wirtschaftskrise und ihrer Folgen in den USA ist erschütternd. Das reale Bruttoinlandsprodukt schrumpfte hier im 2.Quartal 2020 um 31,7 Prozent, im Jahresverlauf um 5 Prozent. Der Zusammenbruch der Wirtschaft hat 20 Millionen Menschen arbeitslos gemacht, die Erwerbslosigkeit ist auf fast 15 Prozent gestiegen. Nun erholt sich die Wirtschaft allmählich, die Erwerbslosigkeit ist wieder auf etwa 8 Prozent gesunken. Dennoch bleiben Millionen von Lohnabhängigen arbeitslos, überleben mit Einkommenseinbußen und müssen damit rechnen, aus ihrem Zuhause geworfen zu werden, weil sie die Hypotheken auf ihre Häuser und die Mieten für ihre Wohnungen nicht bezahlen können.
Die US-Regierung hat versucht, den freien Fall der Wirtschaft mit denselben Mitteln zu stoppen wie die Große Rezession 2007. Die Notenbank pumpte über 2,3 Billionen Dollar in die Wirtschaft – sie senkte die Zinssätze, druckte Geld, kaufte Wertpapiere und vergab Kredite an Banken, Unternehmen sowie an Bundesstaaten und Kommunen. Trump und die Republikaner sorgten dafür, dass der größte Teil der Rettungsaktion an Unternehmen ging, um Zombiefirmen aller Art am Leben zu erhalten.
Doch entgegen den Hoffnungen hat die Rettungsaktion diesmal nicht zu einer deutlichen Erholung geführt. Die Fortdauer der Pandemie hat Staaten und Städte zu periodischen Lockdowns gezwungen und ein normales Funktionieren der Wirtschaft verhindert. Trump und die Republikaner haben sich geweigert, ein weiteres Konjunkturpaket zu verabschieden. Sie wollen die Staatsverschuldung und das Staatsdefizit nicht weiter in die Höhe treiben und lehnen eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung sowie individuelle Auszahlungen ab, weil sie Erwerbslose angeblich von der Arbeitssuche abhalten würden.
Dennoch hat der US-Staat einmal mehr den Kapitalismus gerettet. Damit hat er jedoch verhindert, dass unprofitable Unternehmen abgestoßen werden, und dafür gesorgt, dass es nicht zu einer tiefen Rezession kommt, auf die ein steiler Aufschwung des Wachstums folgen kann, sondern zu einem langanhaltenden Niedergang, bei dem zu viele Unternehmen mitgeschleppt werden, die zuviel Zeug produzieren, das sie nicht mit ausreichend hohem Profit verkaufen können.
Die tiefe politische Polarisierung im Land wurde dadurch verstärkt. Trump, obwohl kein Faschist, ist mit seinem Rassismus und seinen Law-and-Order-Parolen gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung weiter nach rechts gegangen. Er hat auch rechtsextremen Formationen, die sich im Kleinbürgertum, in einem Teil der Arbeiterklasse und im Lumpenproletariat rasch ausbreiten, grünes Licht gegeben.
Trotz des katastrophalen Missmanagements der Pandemie und der Wirtschaft stützt sich Trump weiterhin auf etwa 40 Prozent der Bevölkerung. Diese neue Rechte wird bestehen bleiben, unabhängig vom Ausgang der Wahlen im Herbst.
Auf der Linken haben Pandemie und Rezession zu steigenden Mitgliederzahlen bei den Democratic Socialists of America (DSA) sowie bei vielen anderen entstehenden Formationen auf der Linken begünstigt. Sie bilden den Kern einer neuen sozialistischen Bewegung, die Teile der Studierenden, der Arbeiterklasse und der unterdrückten Bevölkerungsgruppen umfasst.

Black Lives Matter
Die Bewegung Black Lives Matter aus diesem Sommer ist die größte einzelne Protestwelle in der Geschichte der USA. Seit dem rassistischen Mord an George Floyd in Minneapolis haben bis zu 26 Millionen Menschen an den Demonstrationen teilgenommen. Das ­Video von dem Mord hat das Bewusstsein und das Gewissen des ganzen Landes erschüttert und die Menschen in eine Massenrebellion getrieben.
Dies ist die zweite große Welle der jüngsten antirassistischen Bewegung. Die erste Welle entstand 2014 im Gefolge der Polizeimorde an Michael Brown in Ferguson, Missouri, und Eric Garner in New York City, und sie wuchs sich nach der Ermordung von Freddie Gray durch die Polizei zu einer umfassenden Rebellion in Baltimore im Bundesstaat Maryland aus, in deren Gefolge die Stadt und der Bundesstaat die Nationalgarde einsetzten.
Die diesjährige zweite Welle ist weitaus größer und in gewisser Weise radikaler als die erste. Diesmal haben schwarze Aktivistinnen und Aktivisten viel mehr Unterstützung von weißen Menschen erhalten als beim letzten Mal. Demonstrationen gegen Polizeirassismus gab es nicht nur in schwarzen Stadtgebieten, sondern auch in mehrheitlich weißen Vororten und Kleinstädten im ganzen Land.
Diese von Schwarzen angeführte, multiethnische Rebellion scheint weitgehend spontan zu sein, aber in ihrem Kern sind die Aktiven national und lokal vernetzt. Schwarze Aktivistinnen und Aktivisten sind in Strukturen wie Movement for Black Lives, Critical Resistance und vielen anderen organisiert. Die zentrale und radikale Forderung der Bewegung ist, die Finanzierung der Polizei einzustellen. Für den linken Flügel der Bewegung ist die Abschaffung der Polizei Teil des Kampfes für einen Systemwechsel durch kollektiven Massenkampf auf den Straßen, in den Communities und am Arbeitsplatz.
Im Gegensatz dazu versuchen liberale Strömungen und die Demokratische Partei, diesen Radikalismus einzudämmen, indem sie die Forderung nach Entzug der Finanzmittel für die Polizei zur bloßen Budgetkürzung bei den Polizeidienststellen umdefinieren und in die Sackgasse der Polizeireform lenken, wobei sie verstärkt in die Polizeiausbildung investieren wollen.
Die Demokraten hoffen, die Bewegung von der Straße zu holen und sie bei den Wahlen zur Stimmabgabe für Biden zu gewinnen. In der Bewegung gibt es deshalb einen Kampf um Strategie und Taktik. Denn sie hat einmal mehr bewiesen, dass der Klassenkampf der Massen weitaus wirksamer ist als Wahlpolitik, um Reformen durchzusetzen. In wenigen Monaten hat sie mehr Erfolge errungen als in jahrzehntelange Wahlen und Lobbyarbeit bei den Demokraten. Sie hat verschiedene Stadtregierungen gezwungen, den Polizeihaushalt zu kürzen, die Polizei aus den Schulen zu verweisen und Geld in soziale Dienste und Bildung zu stecken.
Trotz dieser Fortschritte sind wir noch weit davon entfernt, der Polizei die Finanzmittel zu entziehen, geschweige denn sie abzuschaffen. Weiterhin werden Schwarze ungestraft brutalisiert und getötet. Die Frustration darüber hat die vielleicht radikalste Aktion provoziert, die es bisher gab – den Streik der schwarzen Profibasketballer in der NBA. Er löste eine Welle weiterer Aktionen bei den Spielerinnen in der WNBA und auch bei Athleten in Sportarten mit wenigen schwarzen Sportlern wie Baseball und sogar Eishockey aus.
Angesichts dessen griff Ex-Präsident Barack Obama ein, um einen Deal zu vermitteln, damit die NBA-Spieler wieder an die Arbeit gingen. Die Sportunternehmen versprachen, das Movement for Black Lives zu unterstützen, und Obama ermutigte die Spieler, für Biden zu stimmen und für seine Wahl zu werben.
Augenblicklich befindet sich die Bewegung in einer Flaute, aber die fortgesetzten Morde an Schwarzen durch die Polizei provozieren weiterhin Proteste an verschiedenen Orten. Die endlose Mordserie der Polizei garantiert, dass die Bewegung in den kommenden Monaten und Jahren immer wieder ausbrechen wird, bis ein Systemwandel erreicht ist.
Vorerst jedoch werden die meisten organisierten Kräfte durch die Herbstwahlen gebunden, um für Biden zu werben. Biden jedoch, weit davon entfernt, ein Fürsprecher der Bewegung zu sein, wendet sich gegen ihre Hauptforderung, der Polizei die Mittel zu entziehen. Dennoch sehen die meisten keine andere Alternative als ihn zu unterstützen, um Trump zu besiegen. Trump hat die Bewegung dämonisiert und seine Basis für die Unterstützung der Polizei mobilisiert. In den Mittelpunkt seiner Wahlkampagne hat er einen Law-and-Order-Rassismus gestellt.

Kämpfe und soziale Bewegungen
Seit der Großen Rezession haben wir immer wieder Ausbrüche breiter Kämpfe erlebt – angefangen mit Occupy, der Black-Lives-Matter-Bewegung und einer Handvoll landesweiter Streiks, allen voran dem Streik der Chicagoer Lehrergewerkschaft im Jahr 2012, der zum Modell für die nachfolgenden Lehrerstreiks wurde. Die Wahl von Trump hat mit dem Frauenmarsch gleich zu Beginn seiner Herrschaft eine neue Protestrunde eingeleitet.
Die Pandemie und die Rezession haben die Beschäftigten in wichtigen Industriezweigen gezwungen, zum Schutz ihrer Gesundheit in den Streik zu treten. Beschäftigte in Krankenhäusern, an Schulen, bei Amazon und in fleischverarbeitenden Betrieben haben Aktionen und in einigen Fällen auch Streiks organisiert, um persönliche Schutzausrüstungen und Gefahrenzulagen durchzusetzen.
Nach Jahrzehnten des Rückzugs, der Niederlage und der Desorganisation stehen wir heute eindeutig am Anfang zunehmender Militanz. Die Großorganisationen der sozialen Bewegungen, die NGOs und die Gewerkschaften, sind derzeit durch die Wahl wie gelähmt. Sie ordnen die Kämpfe der Wahlpolitik unter in der vergeblichen Hoffnung, dass die Wahl von Joe Biden und der Demokraten einen Ausweg aus den Katastrophen des US-Kapitalismus bringen wird.
Die zunehmende soziale Ungleichheit wird die Basis der Gewerkschaften und die Bewegungen jedoch zwingen, Organisationen aufzubauen, die eine höhere Militanz fordern, um es mit den Bossen und der wachsenden extremen Rechten aufzunehmen. Wir stehen am Anfang einer ganzen Epoche von Krise, politischer Polarisierung und Kämpfen.

Die Linke und die Wahl
Im November stehen die DSA und die Linke vor der unattraktiven Wahl zwischen einem rechtsgerichteten Republikaner, Trump, und einem etablierten Demokraten, Biden, der sich für die Wiederherstellung bürgerlicher Regierungsnormen einsetzt.
Zu den Wahlen gibt es in der Linken drei Hauptströmungen. Die liberale Linke macht sich in unterschiedlichem Ausmaß Illusionen über Bidens Programm.
In der sozialistischen Linken vertritt die Hauptströmung die traditionelle Position, für das kleinere Übel zu stimmen, um das größere zu stoppen. Das Beste an dieser Strömung ist das Versprechen, für Biden zu werben, für ihn zu stimmen und ihn danach vom ersten Tag an zu bekämpfen. Andere säen Illusionen, mit Biden werde es im Weißen Haus leichter sein, progressive Reformen durchzusetzen.
Eine kleine Strömung revolutionärer Linker, zu der ich gehöre, argumentiert gegen diese beiden Positionen. Wir behaupten, dass man das größere Übel nicht bekämpfen kann, indem man für das kleinere stimmt.
Die DSA als größte Organisation der Linken hat all diese Strömungen in sich. Als Organisation ist sie durch die auf dem letzten Kongress verabschiedete Resolution «Bernie or Bust» daran gehindert, Biden zu unterstützen. Doch die Mitglieder einiger ihrer Fraktionen setzen sich aktiv für Biden ein, und viele, wenn nicht sogar die meisten ihrer Mitglieder werden individuell für Biden stimmen, wie sehr sie ihm auch misstrauen oder ihn verachten.

* Der Autor ist langjährige Aktivist sowie Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA).

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