Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2020

Berlin: Bertz+Fischer, 2020. 320 S., 14 Euro
von Hermann Dierkes

Au Loong-yu, langjähriger Globalisierungskritiker und Aktivist für Arbeiterrechte aus Hongkong, legt mit seinem zweiten Buch* die bisher beste Analyse der Demokratiebewegung aus linker Sicht vor.

Er schildert nüchtern, aber packend den Gang der Ereignisse, untersucht die vielschichtige Zusammensetzung der Bewegung und ihre Kampfformen – von friedlichen Protesten bis hin zu harten Straßenkämpfen mit der Polizei, geht auf ihre Widersprüche ein, auf die jeweiligen Ziele, die mitunter fragwürdige Suche nach internationaler staatlicher Unterstützung, die Peking in die Hände spielt. Er lobt das hohe Maß an Spontaneität, problematisiert aber auch die mangelnde Strategie und Organisation des linken Flügels. Er reflektiert die Interessen Pekings, der Hongkonger Bourgeoisie, die Rolle der unterschiedlich ausgerichteten, aber weitgehend diskreditierten Altparteien; aber auch die der USA, die die Bewegung demagogisch als Spielball vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Konfrontation mit China nutzen.
Die Hongkonger, so der Autor, waren unter britischer Kolonialherrschaft konservativ und passiv. Das begann sich in den Jahren nach der Rückgabe der Kronkolonie 1997 an China zu ändern. Der Vertrag für die Sonderverwaltungszone sah prinzipiell die Eigenständigkeit der 7,5-Millionen-Stadt unter Beibehaltung der kapitalistischen Verhältnisse für 50 Jahre vor. Bürgerrechte und Freiheiten sollten gewährleistet, die Bezirkswahlen bis hin zu allgemeinen Wahlen erweitert werden.
Dieser letzte Schritt war allerdings nicht mit einem Datum versehen. Der Grundsatz lautete: «Ein Land, zwei Systeme». Peking definiert sich als sozialistisch, während Hongkong kapitalistisch bleiben sollte. Für Peking war Hongkong (zusammen mit dem ehemals portugiesischen Macau) als Finanz- und Wirtschaftszentrum allerdings eine zentrale Drehscheibe bei der Wiedereinführung des Kapitalismus. Man sprach vom Huhn, das goldene Eier legt. Es ist laut Autor davon auszugehen, dass Peking sich auf diesen Kompromiss nur einließ, um später die volle Kontrolle über die frühere Kolonie wiederzuerlangen.
Als Peking zu Beginn der 2000er Jahre die Schrauben anzog, die Autonomie Hongkongs abzubauen und die politischen Verhältnisse anzugleichen begann, musste es 2003 vor der ersten großen Protestwelle einen Rückzug antreten. Das Ziel wurde aber nicht aufgegeben, und es folgten stets neue Vorstöße, u.a. bei der Amtssprache. So sollte 2012 das in Hongkong gesprochene Kanton-Chinesisch schrittweise durch das offizielle Mandarin-Chinesisch (Putonghua) ersetzt werden. Im Vorlauf zu den Bezirkswahlen wollte Peking die vorherige Anerkennung aller Kandidaten durchsetzen.
Die nun einsetzende, jugendlich dominierte Bewegung, die sich vor allem auf das allgemeine Wahlrecht konzentrierte –, erreichte ihren Höhepunkt 2014. Nach 79 Tagen ergebnislosen Kampfes folgten fünf Jahre Resignation und Niedergang. Die Bewegung lebte im Februar 2019 wieder auf und entwickelte sich zur Revolte, als die Hongkonger Zentrale auf Geheiß Pekings durchsetzen wollte, dass praktisch jeder Straftäter an die VR China ausgeliefert werden könne. Nach vielen Monaten Kampf sah sich die Hongkonger Führung um Carrie Lam im September gezwungen, das Auslieferungsgesetz formell zurückzuziehen. Bei den anschließenden Bezirkswahlen kamen die gegen die Pekinger Vorherrschaft gerichteten Oppositionslisten auf 57 Prozent der Stimmen (1,67 Millionen). Im Januar 2020 demonstrierten noch einmal über eine Million Menschen. Erst nach acht Monaten flaute die Bewegung durch die kombinierte Wirkung von harter Repression – Peking setzte schließlich das neue «Sicherheitsgesetz» durch – und Einschränkungen durch die auch in Hongkong ausgebrochene COVID-19-Pandemie ab.
Geht es der Bewegung um die Verteidigung einer besonderen Identität gegenüber Festland-China, wie es vor allem ihr rechter «lokalistischer» Flügel vertritt? Oder um die Verteidigung von Freiheitsrechten und Autonomie gegenüber einer autoritären Staatsbürokratie? Dauerhafte Erfolgschancen sieht Au nur, wenn sich auch in Festland-China die vielen zersplitterten Kämpfe gegen Ausbeutung und autoritäre Bürokratie irgendwann zu massiven Demokratisierungsbewegungen entwickeln und mit einem starken, progressiven und organisierten Flügel in Hongkong zusammenfließen. Das aber verlangt einen langen Atem.
Angesichts der unterschiedlichen Positionierung der internationalen Linken schließt der Autor mit der Fragestellung: Welche internationale Solidarität ist nützlich und wo sollte die internationale Linke stehen?

*Au Loong-Yus Hauptwerk ist China’s Rise. Strength and Fragility (London: Merlin Press 2012). Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor. Das hier besprochene Buch erschien erstmals 2020 bei Pluto Press (London) unter dem Titel Hong Kong in Revolt.

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