Vom Versagen der Politik
von Angela Klein und Manuel Kellner
Kurz nach dem Lockdown light stellte ein Bäcker in Köln eine Tafel ins Schaufenster: «Nur noch 2 Kunden auf einmal im Laden». Darunter hatte er den Satz geschrieben: «Bitte respektieren Sie die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, auch wenn Sie sie nicht verstehen, weil Sie z.B. in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren dürfen.»
Treffender kann man die Widersprüchlichkeit der derzeitigen Corona-Maßnahmen kaum zum Ausdruck bringen.
Der Unwille, die Einschränkungen hinzunehmen, steigt, die Aggressivität auf den Anti-Corona-Demos nimmt zu. Gleichzeitig steigen die Zahlen der Corona-Opfer, höher als im März und zugleich unkontrollierter, weil nicht mehr so leicht an Hotspots festzumachen.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am 13.11.: «Die Hälfte der Kliniken hat nur noch begrenzt Intensivbetten zur Verfügung.» Engpässe bei Schutzkleidung und Beatmungsgeräten wie im Frühjahr gebe es kaum noch, der Hauptgrund der Einschränkungen seien – dreimal darf man raten: zu wenig Personal. Was nützen freie Betten, wenn das Pflegepersonal für die entsprechenden Patienten fehlt? Der Tarifkampf im öffentlichen Dienst lässt grüßen.
In Anbetracht dieser Lage sei die Frage erlaubt: Muss man die Gefahren der Pandemie herunterspielen, um die Corona-Maßnahmen der Regierung(en) angemessen kritisieren zu können? Albrecht Kieser begibt sich im Gefolge von Hannes Hofbauer in der Novemberausgabe der SoZ aufs Glatteis: Die Gefahr ist nicht ernst, und sterben müssen wir alle mal. Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, erübrigt sich freilich jedes Gesundheitssystem, der Tod kommt ja doch, nur etwas früher.
Dass Linke sich eine solche Argumentation zu eigen machen, befremdet uns. Wir würden lieber einen anderen Ansatzpunkt wählen – die Regierung nämlich dafür kritisieren, dass sie nicht genug und zum Teil das Falsche tut und auf ihrem derzeitigen Weg Seuchen nicht in den Griff bekommt, sondern ihnen hinterherhechelt.
Dass die Gefahr nicht ernst sei, wird von keinem ernstzunehmenden Virologen behauptet, selbst Hendrik Streeck, der die Pandemie eher sportlich nimmt und den Lockdown light anfänglich kritisiert hatte, hat seine Kritik nach den jüngsten Entwicklungen zurückgenommen. Schließlich rückt die Gefahr, dass die Bettenzahl nicht ausreicht und Kranke deshalb aussortiert werden müssen wie im Frühjahr in Italien, deutlich näher.
Auch der wachsende Unmut in der Bevölkerung kommt nicht daher, dass sie meint, die Regierung würde die Gefahren von Corona aufbauschen. Es ist der Ärger über die Inkonsequenz der Maßnahmen bzw. schlicht und einfach Existenzängste. Zurecht.
Wenn das aber der Befund ist, dann liegen Linke daneben, wenn sie in das Horn der «Querdenker» und Coronaleugner tuten. Da hat der Bäcker besser verstanden, wo die Defizite der Regierung liegen:
– Wie das RKI selbst erklärt, gibt es immer noch nicht genügend Personal in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Man braucht da nicht mit dem Argument zu kommen, das lasse sich nicht von heute auf morgen aus dem Boden stampfen. Die Regierung zeigt nicht einmal Ansätze, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, vom ökonomischen Regime der Fallpauschalen abzukehren und Krankenhäuser wieder zuallererst zur großflächigen Daseinsvorsorge zu verpflichten.
– Dasselbe gilt für die Testkapazitäten. Auch da verlässt sich die Regierung auf das Netz zumeist privater Labors. Die sind aber mit flächendeckenden Tests überfordert. Deshalb wird jetzt die Losung ausgegeben: Nicht mehr jeder mit Erkältungssymptomen soll getestet werden, dann «müssten wir 3 Millionen Tests jede Woche durchführen» (sic!). Südkorea war dazu in der Lage – mit ambulanten Teststationen an den wichtigen Verkehrsknotenpunkten der Stadt (Einkaufsmeilen, Bahnhöfe und Haltestellen, Einrichtungen mit Massenbetrieb usw.) – warum nicht wir? Stattdessen sollen jetzt Menschen mit Erkältungssymptomen in eine fünftägige freiwillige Quarantäne gehen (zu Hause bleiben).
– Die Gesundheitsämter sind ein Nadelöhr – auch das weiß die Regierung. Seit Februar hätte sie Zeit gehabt, deren Personal und Kapazitäten aufzustocken, passiert ist viel zu wenig. Nimmt es da wunder, wenn die Gesundheitsämter erklären, sie könnten die Kontakte nicht mehr nachvollziehen, bei 75 Prozent der Infektionen sei es ihnen nicht möglich zu sagen, bei welchen Gelegenheiten sich die Menschen infiziert haben? Die Regierung verliert also die Kontrolle über den Verlauf der Pandemie, weil sie seit Monaten nicht in die Kapazitäten dafür investiert. Schon zu Beginn des Jahres mussten wir schreiben: «Sie wussten es und sie haben keine Vorsorge getroffen» (siehe SoZ 4/2020 ). Das gilt jetzt erst recht: Das deutsche Gesundheitssystem ist gerade dabei, als System der Vorsorge zu scheitern.
– Mehr noch: Nicht nur weigert sich die Regierung, den Kurs der Privatisierung des Gesundheitswesens zu verlassen, sie wälzt auch die Folgen der Pandemie auf die einzelnen Bürger ab, privatisiert die Risiken. Kino-, Theater- und Museumsbesuche bleiben untersagt, obwohl die Betriebe viel Geld in Coronamaßnahmen investiert haben und nachweislich die Sicherheitsauflagen einhalten können. Und warum? Damit weniger Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind – statt auch hier die Kapazitäten von Bus und Bahn drastisch zu erhöhen. In den Alters- und Pflegeheimen hingegen nehmen die Corona-Ausbrüche zu, von dem «besonderen Schutz der Risikogruppen», der allenthalben gefordert wird, ist wenig zu sehen. Auf ein Gesetz zur Kontrolle des Arbeitsschutzes in der Fleischindustrie kann die Regierung sich nicht einigen, die Ausbeutung der Beschäftigten soll unter der Pandemie nicht leiden.
– Und natürlich ist nirgendwo davon die Rede, die Ursachen der Zunahme von Seuchen zu beheben, als da sind: Entwaldung, industrielle Landwirtschaft, und, und…
Das Handlungsrezept der Regierung heißt: 1) den Kollaps in den Krankenhäusern vermeiden; 2) die Mobilität der einzelnen einschränken, bis 3) der Impfstoff kommt. Ist der einmal da, sind die Risiken endgültig privat, dann wird die Regierung der Verlauf von Corona nicht mehr interessieren als der Verlauf einer Grippe.
Der Lockdown, auch in der «Light»-Form, ist nur deshalb in dieser Form nötig, weil die Regierung öffentliche Formen der Krisenbewältigung unterlässt. Der Privatmensch trägt die Lasten – nicht der Pandemie, sondern des Versagens der Politik in Sachen Daseinsvorsorge und öffentliche Infrastruktur.
Wenn die Linke ihre Kritik darauf fokussieren würde, käme sie der Grundstimmung in der Bevölkerung näher und könnte überzeugender für ihre Alternativen werben. Ein zentraler Angelpunkt davon müsste, neben einem Programm öffentlicher Investitionen in soziale und ökologische Infrastruktur das aktive Einfordern von mehr Kontrollrechten der Beschäftigten in den Betrieben sein – da sind auch die Gewerkschaften gefordert.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.