200 Jahre Friedrich Engels – Wie kann die Arbeiterklasse die Macht erobern?
von Hans-Günter Mull
«Neben seiner Jugendfrische und Güte ist nichts so bemerkenswert an ihm wie seine Vielseitigkeit. Nichts bleibt ihm fremd. Naturgeschichte, Chemie, Botanik, Physik, Philologie …, politsche Ökonomie und last not least militärische Taktik.»
So schrieb Marx’ Tochter Eleanor über den 70jährigen «General», wie Friedrich Engels von Freunden und Bekannten wegen seiner umfassenden Studien zu Militärwesen und Kriegsgeschichte genannt wurde.
Mit Die Kunst des Aufstands legt Wilfried Metsch die erste umfassende Studie zur militärischen Aufstandstheorie bei Karl Marx und Friedrich Engels vor.* Ziel seiner Abhandlung ist «die systematische Rekonstruktion der Rolle der Gewalt im asymmetrischen, gewaltförmigen proletarischen Machterlangungsprozess bei Marx und insbesondere Engels». Unter einem «asymmetrischen Krieg» versteht er einen Konflikt, bei dem eine Seite (die vorherrschende Macht) deutlich überlegen ist und die unterlegene Seite der besseren Rüstung des Gegners nichts Vergleichbares entgegensetzen kann.
Marx und Engels haben zeitlebens die Chancen und Risiken eines Aufstands der Arbeiterbewegung analysiert. Sie studierten sorgfältig alle Aufstände ihrer Zeit, wobei sie die Veränderungen der Kampfbedingungen registrierten und auch die Möglichkeit einer friedlichen Umwälzung in Betracht zogen. Eine entscheidende Voraussetzung für Letzteres – auch in einer parlamentarischen Demokratie – war für sie das Verhalten der Machthaber gegenüber der Systemopposition: «daß die Gegenpartei ebenfalls gesetzlich verfährt». Da die Herrschenden über die «zentralisierte Staatsmacht mit ihren allgegenwärtigen Organen – stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand» verfügen, ist deren freiwilliger Abgang nach einem Legitimitätsverlust zwar möglich, aber unwahrscheinlich.
Der Barrikadenkampf
Das klassische Bild des Aufstands im 19.Jahrhundert war der «Straßenkampf mit Barrikaden». Diese Kampfform war – von kurzfristigen Siegen 1848/49 abgesehen – weitgehend gescheitert, da die Arbeiter dem brutalen Einsatz von Kanonen durch das Militär nichts Vergleichbares entgegensetzen konnten und nur bei Erschütterung und Demoralisierung der Armee nicht ganz chancenlos waren.
Letzten Endes ist das militärisch-politische Verhalten der Streitkräfte der Schlüssel zu Sieg oder Niederlage. Das zeigte sich beispielhaft am badischen Aufstand von 1849 zum Schutz der Paulskirchenverfassung: «Der Aufstand in Baden kam unter den günstigsten Umständen zustande, in denen eine Insurrektion sich nur befinden kann … Die Armee, die in andern Aufständen erst besiegt werden mußte, die Armee, von ihren adligen Offizieren mehr als irgendwo anders schikaniert, seit einem Jahre von der demokratischen Partei bearbeitet, seit kurzem durch Einführung einer Art allgemeiner Wehrpflicht noch mehr mit rebellischen Elementen versetzt, die Armee stellte sich hier an die Spitze der Bewegung und trieb sie sogar weiter … Die Armee gerade war es, die in Rastatt und Karlsruhe die ‹Bewegung› in eine Insurrektion verwandelte» (Engels, 1850).
Die Revolution von 1848/49 hatte die Schwachpunkte eines rein defensiven Barrikadenkampfs bloßgelegt. Für Engels war der «Aufstand eine Kunst … und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht». Zu diesen Regeln gehören u.a. die Pflicht, die Offensive zu suchen, die Zentralisierung der Insurrektion anzustreben und sich das moralische Übergewicht zu erhalten, das der Anfangserfolg der Erhebung geschaffen hat. Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune kritisierten Marx und Engels ihren Aufstand, eben weil die Kommunarden nicht nach diesen Regeln gehandelt hätten. Nach der Niederlage der französischen Armee im deutsch-französischen Krieg hätten sich günstige Bedingungen für eine proletarische Herhebung in Paris ergeben, da dort die Armee durch eine aus Arbeitern bestehende Nationalgarde ersetzt wurde.
Noch vor dem Ende der Kommune schrieb Marx, dass die Pariser unterliegen, «weil sie törichterweise den Bürgerkrieg nicht eröffnen wollten … um nicht den Schein usurpatorischer Gewalt auf sich haften zu lassen», was ihren Gegnern die «Zeit zur Konzentration der Kräfte» gab. Engels wurde noch deutlicher: «Es war der Mangel an Zentralisation und Autorität, der die Pariser Kommune das Leben gekostet hat. Machen Sie mit der Autorität usw. nach dem Siege, was Sie wollen, doch für den Kampf müssen wir alle unsere Kräfte zusammenballen und sie auf denselben Angriffspunkt konzentrieren.»
Wenn Marx und Engels vor unvorbereiteten und verfrühten Aufstandsversuchen der Arbeiterbewegung warnten und reformistische Strömungen dafür kritisierten, dass sie den bürgerlichen Staat nicht als Klassenstaat, sondern als neutrale Institution ansahen, dann bildete die Erfahrung der blutigen Unterdrückung der Pariser Kommune den Hintergrund dafür.
Die Wehrpflicht
Ausführlich geht Wilfried Metsch auf Engels’ berühmte Einleitung von 1895 zu Marx’ Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 und seinen Kampf gegen die reformistischen Tendenzen in der SPD ein. Engels analysiert den Entwicklungsprozess der Arbeiterbewegung von ihren Sektenanfängen zur «große[n] internationale[n] Armee von Sozialisten». Damit sei die Zeit der «Minoritätsrevolutionen» und der «Kampfweise von 1848» vorbei.
Engels konstatiert eine «totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens durch die Einrangierung der ganzen waffenfähigen Bevölkerung in die nur nach Millionen zu berechnenden Armeen, durch Feuerwaffen, Geschosse und Explosivstoffe von bisher unerhörter Wirkungskraft». Die Armeen seien um mehr als das «Vierfache gewachsen» und mit einer weitaus wirksameren Bewaffnung versehen. Und auch die Veränderungen der Infrastruktur (z.B. das größere Eisenbahnnetz) begünstigten die unter der Kontrolle der Bourgeoisie stehende Streitmacht.
Engels betont hier die Bedeutung des parlamentarischen Kampfes und die Abkehr vom bewaffneten Straßenkampf. Der Text wurde von der deutschen Sozialdemokratie in einer zensierten und verstümmelten Fassung veröffentlicht, in der alle Passagen gestrichen waren, die sich mit revolutionärer Gewaltanwendung befassten, sodass der Eindruck entstand, Engels verfechte eine reformistische Strategie. Engels protestierte aus Parteiräson nur intern gegen die Verstümmelung seines Textes, doch wurde die Originalfassung von der deutschen Sozialdemokratie nie veröffentlicht. Die zensierten Passagen wurden zum erstenmal 1924 in der UdSSR publiziert.
Der Vorwurf des Reformismus ist unhaltbar, wie Metsch zeigt: «Gewaltanwendung ist für ihn keineswegs ausgeschlossen, aber solange zu vermeiden, wie die Staatsmacht über eine intakte ‹organisierte Gewalt› … verfügt. Auf keinen Fall soll man zur Gewaltanwendung greifen, bevor die Armee erschüttert ist … Sollten die Herrschenden allerdings den Weg der Gesetzlichkeit verlassen, ist die Arbeiterklassenbewegung ebenfalls nicht mehr an die Beachtung der Legalität gebunden.»
Doch wie ist die Armee zu erschüttern? Für Engels und Marx ist die Lähmung der Streitkräfte die Voraussetzung für eine erfolgreiche proletarische Revolution. Wie kann man verhindern, dass das Militär gegen die Arbeiterbewegung vorgeht? Marx und Engels sahen in der allgemeinen Wehrpflicht, die nach und nach im 19.Jahrhundert eingeführt wurde, den entscheidenden Hebel dafür, «da jeder taugliche Mann durch die Armee geht, diese Armee mehr und mehr die Gefühle und Ansichten des Volkes widerspiegelt, daß diese Armee, das Hauptwerkzeug der Unterdrückung, von Tag zu Tag unzuverlässiger wird».
… und heute?
In einem Epilog über neue Gewaltkonstellationen im 21.Jahrhundert verweist der Autor auf die Tatsache, dass mittlerweile 24 von 28 NATO-Staaten die Wehrpflicht ausgesetzt oder abgeschafft haben und stattdessen auf politisch zuverlässigere Berufsarmeen setzen. Außerdem wurden in den letzten Jahrzehnten zunehmend hochspezialisierte paramilitärische Polizeikräfte aufgebaut, die der Aufstandsbekämpfung dienen und erst in letzter Instanz den Einsatz des Militärs erfordern. Für den Autor ergibt sich daher die Notwendigkeit, neue Wege zu beschreiten.
Abschließend stellt er die entscheidende Frage: «…sollte die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht mit gleichem Frauenanteil und die Demilitarisierung der paramilitärischen Polizeieinheiten zum Programm erhoben werden, um während der demokratischen Eroberung der politischen Macht den Transformationsprozess im humanen Interesse weitgehend unblutig gestalten zu können? Eine revolutionär-sozialistische Metropolenbewegung wird, falls sie entstehen sollte, auf diese Fragestellungen eine Antwort finden müssen.»
*Wilfried Metsch: Die Kunst des Aufstands. Studien zu Revolution, Guerilla und Weltkrieg bei Friedrich Engels und Karl Marx. Wien, Berlin: Mandelbaum, 2020. 214 S., 18 Euro.
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