Im Mercedes-Stammwerk Untertürkheim stehen die Zeichen auf
Sturm
Gespräch mit Michael Clauss
In der Automobilindustrie stehen die Beschäftigten seit Monaten unter einem doppelten Druck: Sie sollen die Kosten der Elektromobilität tragen, indem Arbeitsplätze im Verbrennerbereich ersatzlos wegfallen. Zudem werden weiter Standorte in europäische Billiglohnländer verlegt.
So derzeit bei Daimler in Stuttgart-Untertürkheim, wo wo das Mercedes-Management 4000 Arbeitsplätze abbauen und die Personalkosten dadurch um 20 Prozent senken will.
Paul Michel sprach darüber mit Michael Clauss, seit 27 Jahren IG-Metall-Betriebsrat im Mercedes-Motorenwerk (Powertrain) Untertürkheim.
Vor ein paar Wochen hat das Management euch wissen lassen, dass im Motorenwerk Untertürkheim (Powertrain) 4000 Arbeitsplätze wegfallen sollen. Wie ist die Lage bei euch?
Wir gehen davon aus, dass es bei der Transformation der Autoindustrie nicht nur um eine produktseitige Transformation geht. Wir haben den Anspruch, dass auch die Belegschaft, sprich die Arbeitsstellen transformiert werden. Es darf nicht sein, dass in diesem Prozess immer mehr Lichter ausgehen und eine große Zahl von Arbeitsplätzen schlicht verschwindet. An einem Arbeitsplatz in der Autoindustrie hängen Arbeitsplätze bei Zulieferern, im Maschinenbau oder auch im sozialen Umfeld, da bist du schnell bei fünf und nicht bei einem.
Hier sind wir mit dem Management im Konflikt. Die wollen, dass am Ende des Tages die Autos von weniger Menschen «billiger» gebaut werden. Die Unternehmensleitung hat im Herbst letzten Jahres angekündigt, dass sie Personal reduzieren will, und dafür ein Abbauprogramm aufgelegt. Diese Ankündigung bezog sich ursprünglich nicht auf die Produktion, sondern auf die Verwaltungsbereiche. Ganz konkrete Zahlen sind vom Management nie genannt worden. Laut Presse ging es irgendwann um 10000, dann um 20000 und zuletzt um 30000 Beschäftigte.
Traditionell ist es beim Daimler schon immer so gewesen, dass, wenn ein neuer Vorstand kommt, er genauer hinschaut und feststellt: Hoppla, warum gibt es denn hier so viele Zentralfunktionen und indirekte Funktionen – der sog. «Wasserkopf»? Das sind ja Fixkosten, die unabhängig davon anfallen, wieviele Autos produziert und verkauft werden. Solche Abbauprogramme habe ich in den 28 Jahre als Betriebsrat vier- oder fünfmal erlebt. Da gibt es Abfindungsprogramme. Bemerkenswert ist aber: Da wird Personal runtergefahren, ohne dass das Management weiß, welche Funktionen damit eigentlich entfallen.
Was jetzt passiert, ist etwas anderes. Die nutzen jetzt die Pandemie bösartig aus. Im Sommer 2020 vereinbarte das Management mit dem Gesamtbetriebsrat einen Plan «Kostensenkung». Und dann hieß es, dass nun auch im Produktionsbereich Personal abgebaut werden soll. Da kam der Werksleiter auf uns zu und sagte: Für das Werk Untertürkheim bedeutet das 4000 Stellen bis zum Jahr 2025. Davon sind 1500 indirekte und Verwaltungsmitarbeiter aus dem «Herbstprogramm» und 2500 Produktionsbeschäftigte. In einem Werk, wo in der Produktion etwa 11000 Leute tätig sind, ist das schon heftig! Das kommt zustande, weil das Management uns bereits zugesagte Vereinbarungen nicht einhalten will.
Im «Powertrain»-Werk Untertürkheim teilt sich die Produktion auf in «klassische Antriebe» (Verbrennungsmotor, Getriebe, damit verbundene Aktivitäten in der Gießerei) und Elektromobilität. Im «klassischen» Bereich wollen sie jetzt Tätigkeiten herausnehmen und an andere Standorte verlagern, wo die Löhne schlechter sind. Wir haben z.B. die Zusicherung zur Einrichtung von drei weiteren Kurbelwellentransferstraßen (150 Leute). Jetzt sagen sie, sie wollen das ins Werk nach Polen mit billigeren Löhnen verlagern.
Ähnlich ist es in der Getriebeproduktion. Hier wollen sie Dinge, die sie uns für das Werk Hedelfingen zugesagt haben, künftig im rumänischen Werk Sebe? machen.
Angeblich sagt das Management: Wir müssen Platz schaffen…
Unsere Politik war bisher: Wir haben Flächen für konventionelle Technik freigegeben, um den Platz für neue Technik zu nutzen. Wenn 100 Stellen rausgehen, müssen wieder 100 Stellen dazu kommen. Damit waren wir auch relativ erfolgreich. Im Werkteil Brühl entsteht gerade eine der zwei mit uns vereinbarten Batteriefabriken. Eine andere entsteht im Werkteil Hedelfingen. Das Management hat offenbar gemerkt, dass wir mit dieser Politik in den letzten Jahren ganz erfolgreich waren. Deshalb treten sie jetzt anders auf. Jetzt ist ihre Ansage: Wenn 100 Stellen raus gehen, kommen keine neuen Jobs rein. Damit stellen sie die vereinbarte Herangehensweise auf den Kopf.
Fakt ist: Es gibt kein Raumproblem in der Form, wie das Management behauptet. Wir können ihnen bei Bedarf konkret zeigen: Da oder dort gibt es die Möglichkeit, die benötigten Flächen frei zu machen. Aber da schalten sie momentan auf Durchzug oder finden eine Ausrede, warum das nicht gehe. Sie wollen jetzt sogar den Werksteil Sirnau mit seinen 350 Beschäftigten ganz schließen und das Gelände mit Gebäuden verkaufen. Wenn es also am Platz für neue E-Antriebs-Themen läge, hätten sie ihn ja z.B. dort.
Die Leute spüren, was da gespielt wird. Deswegen ist bei den Beschäftigten die Wut groß. Wir haben vor drei Wochen beschlossen: Wir brauchen in dieser Situation für die Belegschaft, aber auch für die Öffentlichkeit, eine sichtbare Reaktion. Wir haben uns trotz Corona entschlossen, mit Abstands- und Hygieneregeln Versammlungen zu machen. In Mettingen waren wir allein in der Frühschicht 1200, in Untertürkheim 800 und in Hedelfingen 500 Kollegen, mit der Spätschicht zusammen waren insgesamt 4000 Leute beteiligt.
Wir haben uns gedacht: Wenn wir das nur auf dem Werksgelände machen, kriegt man das draußen gar nicht richtig mit. Deshalb haben wir in Mettingen die Versammlung in einem Parkhaus gemacht, das direkt ans Werksgelände angrenzt. Dort ist die oberste Etage zum größten Teil überdacht, sodass wir auch bei schlechtem Wetter auf der sicheren Seite waren. Die Etage haben wir nach Corona-Bedingungen heimlich vorbereitet, mit Abstandsmarkierungen. Dann haben wir zu einer Informationsversammlung vor dem Betriebsratsgebäude auf dem Werksgelände aufgerufen. Dort habe ich ganz überrascht festgestellt: Hoppla, da kommen zu viele, wir gehen raus vors Tor. Dann sind wir raus und ins Parkhaus rein und hatten da eine tolle Aktion. Wir konnten trotz der Masse der versammelten Menschen die Hygieneregeln weitestgehend einhalten. Und die Aktion war sichtbar nach draußen. Fernsehen war vor Ort, was nicht möglich gewesen wäre, wären wir auf dem Werksgelände geblieben.
Wir überlegen auch neue Aktionsformen. Es muss ja nicht in jedem Fall die Massenbewegung sein, um nach außen deutlich zu machen, was für einen Konflikt wir hier im Werk haben.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir haben der Unternehmensleitung gegenüber ein klare Ansage gemacht: Wir haben Verträge, die habt ihr gefälligst einzuhalten. Daraufhin sagt der Werksleiter: Gut, wir halten uns an die Verträge, aber dafür kommt nichts Neues mehr an den Standort.
Also lehnen wir jetzt Überstunden ab. Vorher hatten wir ein paar Bereiche – die Produktion von S-Klasse-Achsen, die Batterieproduktion, wo sie große technologische Probleme haben, und die Fertigung der neuen Dieselmotoren, die für die Erreichung der CO?-Ziele wichtig sind – von der Ablehnung der Überstunden ausgenommen. Letzte Woche haben wir gesagt: Jetzt reicht es. Wir lehnen jetzt Überstunden auch dort ab, wo es der Vorstand merkt und wo es ihm weh tut. Wir kommen jetzt an den Punkt, wo sie in Sindelfingen und anderen Werken in der Welt Probleme bekommen, weil Teile fehlen.
Das hat bereits Auswirkungen auf Sindelfingen?
Das hat Auswirkungen auf Mercedes-Werke in der ganzen Welt. Noch ist es so, dass wir in jedes Werk eine Vielfalt von Produkten im Antriebssegment (Achsen, Motoren, Getriebe) liefern. Die können sich nicht über Lieferungen aus anderen Werken von uns gänzlich unabhängig machen. Es gibt Teile, die werden nur bei uns produziert. Das gibt uns die Möglichkeit, Druck auszuüben. Allein die Überstundenverweigerung bringt sie schon in die Bredouille. Es wird in Sindelfingen Ausfälle und Stillstände geben.
Sindelfingen ist für die neue S-Klasse der Hauptstandort. Wenn jetzt ein neues Modell anlaufen soll und sie können ein neues Fahrzeug, das gerade erst vorgestellt worden ist, nicht liefern, haben sie ein Problem. S-Klasse, das sind die Autos der Luxusklasse, die unter 100000 Euro nicht zu kriegen sind. Und Millionäre mögen keine Verzögerungen bei der Auslieferung! Deswegen ist das Management hier am empfindlichsten. Wenn es bei der A-Klasse Verzögerungen gibt, ist das für das Management kein so großes Problem.
Ich habe dem Werksleiter gesagt, er soll mal seinen Vorstand darauf hinweisen, dass wir Anfang 2021 bei der IG Metall eine Tarifrunde anstehen haben. Er soll den Vorstand fragen, ob es ihm lieber ist, wenn wir diese Auseinandersetzung tariflich führen – wo wir streikfähig sind.
Unsere Oberen an der Spitze der IG Metall sind oft zögerlich, wenn es um Konflikte mit dem Management geht. Die Belegschaft würde das mitmachen. Wenn die Zukunft auf dem Spiel steht, machen bei uns alle mit. Verträge nicht einhalten und 4000 Arbeitsplätze abbauen – da sind die Leute gleich auf dem Hof! Wenn mal die Wut bei unseren Beschäftigten im Bauch ist, geht viel!
Wie verhalten sich die Rechten im Betrieb?
Die greifen ja immer die IG Metall an, nicht den Arbeitgeber. Sie sagen immer: Die IG Metall betreibt den Wandel zum E-Auto. Sie sagen immer: «Verbrenner weiter, Verbrenner weiter, Verbrenner weiter.» Jetzt haben sie ein Problem, weil Källenius, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG, voll auf E-Mobilität setzt und die Leute sehen, dass sie tatsächlich kommt. Das von ihnen bisher bemühte Argument, «das bringt nichts», «das kommt ohnehin nicht», funktioniert nicht mehr. Deswegen sind sie orientierungslos. Sie verhalten sich jetzt ziemlich ruhig. Sie wissen nicht so recht, wie sie in dieser Situation das tun können, was sie am liebsten tun: die IG Metall auf die Anklagebank setzen. Sie haben gerade nichts, mit dem sie in ihrem Sinne Stimmung machen könnten.
Und es gilt: Wenn wirkliche Auseinandersetzungen anstehen, setzt die Belegschaft schon auf die tatsächliche Gewerkschaft und nicht auf eine Möchtegerngewerkschaft wie das rechtspopulistische Zentrum Automobil.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.