Arbeit und der Kampf um Technologieführerschaft
von Ingo Schmidt
COVID-19 hat der Digitalisierung einen mächtigen Schub verliehen. Seit dem ersten Lockdown im März sind Umsätze und Gewinne von Online-Händlern, allen voran Amazon, in die Höhe geschnellt. Die Kurse von IT-Aktien erreichen Rekordwerte.
Computerskeptiker sind scharenweise zu den Zoomern und Teamstern übergelaufen. Das Streben ökonomischer und politischer Eliten nach einer durch künstliche Intelligenz angetriebenen vierten industriellen Revolution beflügelt massenhaft Phantasien der technologischen Befreiung des Menschen von weltlichen Problemen – führt aber auch zu Ängsten um Jobverlust und vor totaler Kontrolle. Kein Zufall, dass COVID-19-Leugner Bill Gates als üblen Verschwörer ansehen. Künstliche Intelligenz, vermeintlicher Triumph einer rationalen Entwicklung, ist zugleich ein Treibsatz der Irrationalität.
Mensch-Maschine: Déjà-vu
Die Idee, Vernunft ermögliche den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit und die Befreiung des Menschen von drückender Arbeitslast, ist nicht neu. Kopfarbeiter gaben ihr in der Renaissance und der Aufklärung wissenschaftlichen und künstlerischen Ausdruck. Doch erst mit der industriellen Revolution im England des späten 18.Jahrhunderts wurde die Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen in nennenswertem Umfang möglich. Die kleine Zahl derer, die die Kosten zur Herstellung dieser Maschinen aufbringen konnten, wurden im Laufe des 19.Jahrhunderts zu industriellen Kapitalisten. Sie herrschten über das gleichzeitig entstehende Industrieproletariat in Westeuropa, Nordamerika und Japan sowie über Absatzmärkte und Rohstoffquellen in Übersee. Dorthin wanderte auch eine zunehmende Zahl derer aus, deren Existenz als Bauern, Handwerker oder Händler durch die industriekapitalistische Konkurrenz ruiniert wurde. Viele von ihnen hofften, dem Dasein als Industrieproletarier durch Auswanderung entgehen zu können. Dessen Ränge wurden schließlich allein durch die schubweise fortschreitende Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen immer wieder aufgefüllt.
Für viele verwandelte sich das Versprechen der Befreiung von drückender Arbeitslast in Existenzangst und neue Formen der Arbeitslast. Wurden auch viele menschliche Bewegungen von Maschinen übernommen, wurde von den verbleibenden Arbeitskräften umso mehr Einsatz bei den restlichen Tätigkeiten erwartet – zu möglichst niedrigem Lohn. Die Drohung, bei der nächsten Rationalisierungswelle den Job zu verlieren, verlieh den Erwartungen der kapitalistischen Chefs Nachdruck.
Das Muster bei der Rationalisierung war immer dasselbe: Zerlegung komplexer Arbeitsvorgänge in kleine Schritte, die von einzelnen Arbeitern oft wiederholt wurden, schließlich aber auch von Maschinen übernommen werden konnten. Wenn Propagandisten einer vierten industriellen Revolution lernende Maschinen als eines ihrer Merkmale hervorheben, liegen sie daneben. Maschinen verkörperten stets, was Menschen über ihre Arbeitsvorgänge gelernt und schrittweise Maschinen zur Ausführung überlassen haben. Deren Konstruktion, anfangs zumeist von handarbeitenden Tüftlern vollbracht, wurde zunehmend von berufsmäßigen Forschern, Ingenieuren und Technikern übernommen. Niemand verkörperte den, und sang das hohe Lied des technischen Fortschritts so laut wie sie. Von einzelnen Maschinen über deren Verbindung durch zentrale Antriebssysteme bis zur Einführung der ersten Industrieroboter in den 1980er Jahren haben sie Arbeitsprozesse analysiert und unter Verwendung neuer Technologien neu organisiert – erst in Werkhallen, dann auch in Büros.
Die endlose Wiederholung standardisierter Tätigkeiten der Hand und, seit Einführung des Computers, des Kopfes waren das Grundprinzip der ersten, zweiten und dritten industriellen Revolution. In deren Verlauf wurde die menschliche Arbeitskraft erst zu einem Anhängsel der Maschinen und teilweise zum Kontrolleur mehr oder minder automatisierter Fertigungs- und Transportprozesse. Die vierte industrielle Revolution, so ihre Propagandisten, ist anders, weil nicht mehr Menschen Maschinen produzieren und programmieren, sondern beides von Maschinen selbst übernommen wird. Maschinen werden zu Selbstprogrammierern und Selbstaufsichaufpassern. So die verheißungsvolle Botschaft.
Bots* und Jobs
Bislang hat noch jede industrielle Revolution ihre Erfinder und Kinder gefressen. Erst wurden die Tüftler durch Forscher und Ingenieure ersetzt. Diese nutzten das Wissen von Produktionsarbeitern über Details ihres Umgangs mit vorhandenen Maschinen für die Entwicklung neuer Technologien. Jede Neuerung brauchte Spezialisten zur Überwachung und Wartung, machte aber auch viele Produktionsarbeiter überflüssig. In den 1980er und 1990er Jahren jubelten die Medien die Rückkehr der Tüftler hoch: Garagenunternehmer wie Bill Gates und Steve Jobs. Wirtschaftsforscher fanden jedoch bald heraus, dass diese Medienhelden im Umfeld staatlich geförderter Grundlagenforschungen agierten und in erheblichem Maße selbst Geld aus staatlichen Töpfen und von privaten Großanlegern brauchten, um ihre Firmen zur Marktführerschaft zu bringen. Auf dem Weg dorthin haben sie unzählige Startups niederkonkurriert.
Ob die künstliche Intelligenz soweit kommt, dass die Anpassung ihrer Algorithmen an neu hereinkommende Daten zur Unabhängigkeit der Maschine vom steuernden Eingriff des Menschen führt, sei dahingestellt. Überschießende Phantasie gehört zu jeder Innovations- und Rationalisierungswelle. Immerhin gibt es mittlerweile Sew- oder Textile-Bots. Baumwolle und Wolle hatten der ersten industriellen Revolution den Rohstoff geliefert, die Weiterverarbeitung industriell gefertigter Textilien blieb aber Handarbeit. Von der Männerwelt als unqualifiziert angesehen, blieb sie Frauen überlassen – auch noch zu einer Zeit, als Arbeiter in der Automobilindustrie ihre Jobs an die ersten Roboter-Generationen abgeben mussten.
Erst jüngst gelang die Herstellung selbststeuernder Roboter, die, ebenso wie die menschliche Hand, ihre Bewegungen dauernd an Verschiebungen und Falten der zu verarbeitenden Stoffe vornehmen können. Ob sich der Einsatz der Textile-Bots in großem Maßstab rechnet, ist noch ungewiss. Die Angst, dass er sich rechnen könnte, wird von Textilfirmen rund um den Globus aber sicherlich genutzt werden, um die Löhne von Textilarbeiterinnen auf dem gewohnt niedrigem Niveau zu halten.
Die Kombination von neuester Informationstechnik und Niedriglöhnen ist längst zum digitalkapitalistischen Regelfall geworden. Der Aufstieg von Amazon, Uber & Co. ist mit der Ausweitung eines vorher schon bestehenden Dienstleistungsproletariats untrennbar verbunden. Die rechtlichen Voraussetzungen für Arbeit auf Abruf, kurzzeitig befristete Arbeit, ganz oder teilweise außerhalb arbeits- und sozialrechtlichen Schutzes wurden in der Zeit geschaffen, als der Personal Computer als letzter Schrei der Informationstechnologie galt. Die drastische Verbilligung der Datenverarbeitung und der gleichzeitige Anstieg entsprechender Kapazitäten erlauben Amazon, Uber & Co. darüber hinaus eine Überwachung ihrer Beschäftigten, von denen frühere Generationen kontrollwütiger Kapitalisten nur träumen konnten. Der Traum heutiger E-Kapitalisten ist allerdings nicht lückenlose Überwachung, sondern die Ersetzung von menschlichen Fahrern durch computergesteuerte Selbstfahrer. Die Medien sind voll mit Berichten über selbstfahrende Pkws. In den Vorstandsetagen des Online-, aber auch des traditionellen Handels hoffen sie auf entsprechende Lkws.
Made in China, Sweden or Finland
Von der Massenproduktion sind selbststeuernde Fahrzeuge noch weit entfernt. Eines gilt den Firmen, die an ihrer Entwicklung arbeiten, ebenso wie allen anderen mehr oder minder ins E-Business verstrickten Firmen aber als sicher: Der Kapazitätsbedarf der Datenerfassung, -übertragung und -verarbeitung steigt weiter. Die Datenautobahn muss deshalb ausgebaut werden. Der dafür vorgesehene Technologiestandard ist 5G.
Drei Firmen bieten die zum Betrieb von 5G-Netzen notwendige Hard- und Software in einem Paket an: Ericsson, Nokia und Huawei. Ericsson und Huawei erinnern daran, dass die kleinen skandinavischen Länder schon früh Heimat international operierender Konzerne waren. Und damit zeigten, dass ökonomische Globalisierung und Ausbau des Sozialstaates kein Gegensatz sein müssen. Das war das Argument der neoliberalen Globalisierer, die neben der Weltmarktkonkurrenz den Fortschritt der Informationstechnologie als zweiten großen Gleichmacher ansahen. Zusammen würden sie unterschiedliche soziale Standards, aus neoliberaler Sicht Inkarnationen des Protektionismus, abschleifen und eine Welt der Freiheit und Gleichheit schaffen.
Tatsächlich ist die Welt heute ungleicher als jemals zuvor. Dazu hat das E-Business das Seine beigetragen, siehe die Arbeitsbedingungen bei Amazon, Uber & Co. Ganz zu schweigen von den Bedingungen, unter denen die zum Betrieb dieser Firmen notwendigen Rohstoffe abgebaut und zur entsprechenden Hardware weiterverarbeitet werden. Dafür ist China, das zumeist als Mischung aus Frühkapitalismus und Einparteienkommunismus gilt, zu einer High-Tech-Herausforderung geworden. China liefert über zwei Drittel der für den Bau von IT-Bauteilen notwendigen seltenen Erden und steht für ein Drittel der globalen Produktion von IT-Geräten, ist aber in einigen Bereichen auch zum Technologieführer geworden. Bei der Entwicklung von Computerchips liegen US-Firmen noch vorn, zu 5G-Netzwerken können sie Teile beisteuern, mussten die Pole-Position für das Gesamtsystem aber an die chinesische und skandinavische Konkurrenz abtreten.
Ericsson und Nokia müssen unter den Weltmarktbedingungen operieren, die die Großen dieser Welt bestimmen. Das ist bei chinesischen Tech-Firmen anders. Ebenso wie bei ihren US-Konkurrenten verbindet sich bei Huawei wie auch bei Online-Händlern und Finanzdienstleistern wie Alibaba und Ant die Macht der Konzerne mit der des Staates.
Entgegen den High-Tech- und Globalisierungsphantasien der Neoliberalen ist die Macht von Staaten und Monopolen nicht von der Weltmarktkonkurrenz gebrochen und der freien Entfaltung innovativer Garagenunternehmer abgelöst worden. Vielmehr wurden staatlich mehr oder minder direkt geförderte Innovationen zu Kristallisationskernen neuer Monopole. Mit der chinesischen Konkurrenz sind neue Spieler aufgetaucht, wesentlich verändert hat sich das Spiel damit bislang nicht.
*Unter einem Bot (von englisch robot, «Roboter») versteht man ein Computerprogramm, das weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeitet, ohne dabei auf eine Interaktion mit einem menschlichen Benutzer angewiesen zu sein.
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