Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2021

Zukunftsfähiger Agrarsektor oder «weiter so»?
von Tina Reß

Die alljährliche Internationale Grüne Woche in Berlin – nun steht sie also wieder an, mitten in einer Pandemie, daher im digitalen Format.

Jedes Jahr im Januar kommen aus verschiedenen Ländern die globalen und lokalen Akteure des Agrarsektors sowie 70 AgrarministerInnen zusammen, um über zukünftige Entwicklungen in der Agrarbranche zu beratschlagen.
Nun wäre es ja wünschenswert, würden die Beteiligten eine wirkliche zukunftsorientierte Perspektive erarbeiten. Man könnte mit Blick auf die Leitfragen des Global Forum for Food and Agriculture (GFFA) meinen, dies wäre der Fall, sieht man sich die Inhalte der vier selbst gestellten Leitthemen an: die COVID-19-Pandemie, die Verhinderung weiterer Pandemien, Klimaschutz und Ernährungssystem. Angesichts einer geschätzten Weltbevölkerung bis zum Jahre 2050 von etwa zehn Milliarden Menschen wäre es dringender denn je, neue Wege zu gehen, um die Probleme im Agrarsektor anzugehen. Aber dürfen wir das als Ergebnis wirklich erwarten?
Die Entscheidungen der letzten Jahre, die zu Themen in Landwirtschaft und Klimaschutz in Deutschland getroffen wurden, zeigen ein anderes Bild. Die Neuregelung zur Schweinehaltung etwa, in der mitnichten fortschrittliche Regelungen getroffen, sondern die aktuellen Zustände noch zementiert wurden – mit einer sogenannten Übergangsfrist, die eher die bisher illegalen Haltungsbedingungen legalisiert, statt eine andere Zukunft einzuleiten.
Das Klimaschutzpaket der Bundesregierung mit ihren halbherzigen und nicht sonderlich weitgreifenden Versuchen, die Emissionen zu verringern, ist ebenso ein Zeuge davon, dass man sich auch von der 2021 anstehenden Grünen Woche nicht sehr viel erwarten kann.
Während sich die Bedingungen für die ArbeiterInnen in den Schlachthäusern der Fleischindustrie unter der COVID-19-Pandemie noch weiter verschärfen und wiederholt Infektionen in Schlachtbetrieben aufgedeckt werden, Verkeimungen von Tierprodukten sich häufen, werden im Rahmen der Grünen Woche vor allem die wirtschaftlichen Rahmenbedingung im Agrarsektor besprochen.
Erörterungen, wie der immer weiter expandierende Fleischsektor zu regulieren ist, sucht man vergeblich in den Vorabinformationen. Vielmehr geht es darum, im allgemeinen Wettbewerb zu bestehen und der zur Verfügung stehenden Agrarfläche, Menschen und Tieren noch mehr abzuringen. Ebenso sucht man vergeblich genauere Überlegungen im Hinblick auf eine mögliche Konversion des Agrarsektors hin zu klima-, umwelt- und arbeiterverträglichen Möglichkeiten. Mit Recht kann behauptet werden, es wird ein der Vergangenheit angehörendes Konzept weiterverfolgt.
Und das, obwohl führende wissenschaftliche Berechnungen voraussagen, dass die Fleischindustrie bis ins Jahr 2050 ihre Produktion um bis zu 70 Prozent steigern müsste, um mit den Anforderungen einer wachsenden Weltbevölkerung mitzuhalten.
Dies bedeutet, es kann kein «Weiter so» im Agrarsektor geben. Vielmehr müssten neuere Ansätze für den biologischen Umbau von konventionellen Agrarflächen gefördert werden, es müssen die immensen staatlichen Subventionen in die Agroindustrie in zukunftsorientierte Landwirtschaft umgeleitet werden, anstatt einem nachweislich für alle Lebensbereiche schädlichen Konzept weiter nachzuhängen.
Im Hintergrundpapier zur Grünen Woche für das Jahr 2020 (das neue liegt noch nicht vor) wurde argumentiert, der internationale Agrarhandel würde einen wichtigen Beitrag zur Verringerung von globaler ungleicher Nahrungsmittelverteilung leisten. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Durch globalen Futtermittelanbau für die Fleischindustrie werden ganze Gebiete entwaldet, Kleinbauern von ihrem Land vertrieben und einheimische Märkte mit Produkten der Industriestaaten überschwemmt.
Auch die angeführten Freihandelsabkommen tragen nicht zu einer Lösung bei. Besonders die angeblich fairen Regeln im Agrarhandel, sowohl hierzulande als auch global, gibt es de facto nicht. Die Argumente führen nur zu weiterer Nahrungsmittelungleichheit anstatt zu mehr Gerechtigkeit. Das Hintergrundpapier wird jährlich vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und dem GFFA gemeinsam herausgegeben.
Ökologisch verträgliche Maßnahmen werden nicht etwa Pflicht, und es gibt dafür auch keine Regeln, sondern es wird weiterhin auf freiwillige Umweltstandards orientiert. Was Freiwilligkeit gerade im kapitalistischen System bedeutet, konnte man an vielem in der letzten Zeit beobachten – da ist nichts, woran sich Großkonzerne halten würden. Im genannten Hintergrundpapier findet sich sogar die Feststellung, die «Vorteile der Marktfunktion» könnten im Agrarsektor nicht wirksam werden – als wenn die Marktfunktion jemals Vorteile für alle gebracht hätte.
Das Wissen darum, dass die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens eingehalten werden müssen, bedeutet für die beteiligten Akteure wohl noch lange nicht, dass sie sich einer lebenswerten Zukunft für alle verpflichtet fühlen würden.
Mit den im Agrarsektor dominierenden Großkonzernen will man lieber halbgare Kompromisse statt verträgliche Lösungen für Tier, Mensch und Klima. Es geht weiterhin um Profitorientierung und Ausbeutung der Ressourcen ohne jegliche Begrenzung. Dabei gäbe es schon heute sehr gute Ansätze für einen grundlegenden Umbau des Agrarsektors, wie zum Beispiel die Konversion von landwirtschaftlichen Betrieben, die hauptsächlich Tierhaltung betreiben, zu vermehrtem Gemüseanbau, neuerdings auch erfolgreiche futuristische Konzepte von zellbasiertem Laborfleisch, um die Fleischproduktion ökologisch und vor allem arbeiterverträglich zu gestalten.
Die Agrarlobby und die beteiligten Akteure sehen aber gar nicht ein, warum sie irgendetwas verändern sollten. AktivistInnen, die gegen die Praktiken der Großkonzerne in der Fleisch- und Agrarbranche protestieren, werden kriminalisiert und verurteilt. Dabei sind gerade Protestaktionen von sozialen Bewegungen im Agrarsektor besonders wichtig, um darauf aufmerksam zu machen, dass der landwirtschaftliche Sektor mit der Produktion von tierischen Lebensmitteln einer der Mitverursacher von schädlichen Klimagasen ist und zudem arbeitsrechtliche sowie tierschutzrechtliche Vorgaben einfach missachtet. So wird die Grüne Woche auch 2021 vermutlich ein «Weiter so» verkünden und kaum positive Veränderungen für alle bringen.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.