Die Wahlen spiegeln nicht die Gesellschaft
von David McNally*
Bei dieser Wahl ist, stärker noch als bei vorhergehenden, deutlich geworden, wie sehr das Wahlgeschehen abgekoppelt ist von dem, was an der Basis der Gesellschaft geschieht.
Ein auffälliges Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Trump im Bundesstaat Florida mit überwältigender Mehrheit gewonnen hat, gleichzeitig 61 Prozent der Wählerinnen und Wähler dort für die Anhebung des Mindestlohns auf 15 Dollar die Stunde stimmten.
Diese Art der Abkopplung ist typisch, die bürgerliche Wahlpolitik verzerrt das, was an der Basis der Gesellschaft vor sich geht. Das Ausmaß des Aufstands nach der Hinrichtung von George Floyd durch die Polizei in Minneapolis Ende Mai dieses Jahres ist darin überhaupt nicht zum Ausdruck gekommen. Die New York Times hält diesen Aufstand für die größte soziale Bewegung in der Geschichte der USA. Ihrer Schätzung nach beteiligten sich zwischen Ende Mai und Anfang Juli bis zu 26 Millionen Menschen in irgendeiner Weise an den Protesten von Black Lives Matter (BLM), die in mindestens 2500 Städten und Gemeinden der USA stattfanden.
Die Wahlen haben all das nicht zum Ausdruck gebracht, denn in einer bürgerlichen Demokratie wie den USA bestimmt das Geld die Wahlpolitik, jedenfalls bei überörtlichen Wahlen. Das macht es einer Bewegung wie BLM äußerst schwer, auf der nationalen Ebene einen politischen Ausdruck zu finden.
Obwohl der Rechtsruck in der Wahlpolitik in den USA oft beängstigend ist, muss jedoch gesagt werden, dass die extreme Rechte nicht einmal annähernd zu Mobilisierungen dieses Ausmaßes fähig ist. Sie hat nicht die soziale Basis und nicht die organisatorische Kraft, in solcher Menge auf die Straße zu gehen, trotz des enormen Rechtsrucks in der herrschenden Politik derletzten 40 oder 45 Jahre.
Darüber hinaus wurde den Menschen ja nur die Wahl zwischen zwei rechten Parteien gelassen. Nach jedem vernünftigen Maßstab ist die Demokratische Partei weder links noch links der Mitte.
All dies wirft wichtige strategische Fragen für die Linke auf. Meine Sorge ist, dass der Großteil der Linken, einschließlich der Führung der Democratic Socialists of America (DSA), zu stark in der Wahlpolitik und zu wenig in antirassistischer Organisierung engagiert ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ich halte es für ein Versagen der Linken, dass im ganzen Wahlkampf an keinem einzigen Tag eine landesweite Mobilisierung gegen rassistische Polizeigewalt und zur Verteidigung des schwarzen Lebens stattgefunden hat. Das zeigt das riesige organisatorische Vakuum an, das derzeit besteht.
Defund the police
Die Führung der Demokratischen Partei hat eine noch stärkere Rechtswende im Auge. Noch bevor die Stimmenauszählung abgeschlossen war, traten die Mitte und die Rechte der Partei mit Äußerungen hervor, das Wort Sozialismus dürfe niemals je wieder benutzt werden.
Auch die Forderung, der Polizei die finanziellen Mittel zu entziehen, ist ihr ein Dorn im Auge. Viele Leute verstehen nicht, dass «Defund the police» zu einer Parole der Bewegung geworden ist, weil die Befürworter einer Auflösung der Polizei und der Gefängnisse seit den 80er Jahren Kampagnen dafür organisieren.
Die Art und Weise, wie sie diese Losung vermitteln, ist in jeder Hinsicht progressiv. Sie argumentieren, dass die Polizei eine repressive, durch und durch rassistische Organisation ist, die Menschen aus der Arbeiterklasse und farbige Lohnabhängige gewaltsam verfolgt, und dass die explosionsartig gestiegenen Polizeihaushalte und die Militarisierung der Polizei rückgängig gemacht werden müssen. Und sie fordern einen massiven Transfer der Gelder, die jetzt in die Polizeiarbeit fließen, in den Wohnungsbau, das Gesundheitswesen, die Bildung, Investitionen in die Gemeinschaften von Farbigen…
Die Führung der Demokratischen Partei argumentiert, mit solchen Forderungen könne man keine Wahlen gewinnen. Die Ironie der Geschichte ist aber, dass die Wahlen etwas anderes zeigen. Wer in Bundesstaaten und Städten der USA zur Wahl geht, findet auf dem Wahlzettel nicht nur die Namen der zu Wählenden, sondern auch alle möglichen anderen Vorschläge, über die abgestimmt werden soll.
An vielen Orten ging es in diesem Jahr dabei um Polizeiarbeit und Strafjustiz. So wurden in einer Stadt nach der anderen Forderungen nach einer Reform der Polizei und ihrer Rechenschaftspflicht durchgesetzt – in Pittsburgh, Oakland, Columbus (Ohio), San Diego, Philadelphia.
In Brunswick im Bundesstaat Georgia war der Bezirksstaatsanwalt an der Unterstützung der Polizei bei einem rassistischen Mord beteiligt, er wurde bei den Wahlen abgesetzt. Im Bezirk Los Angeles wurde die «Maßnahme J» durchgesetzt, die Hunderte von Millionen Dollar aus dem Stadthaushalt in den Wohnungsbau, das Gesundheitswesen und in Investitionen in die Gemeinschaft umleitet: Bei der Abstimmung wurde ausdrücklich erklärt, dass diese Millionen nicht Gefängnissen oder der Polizei zugute kommen dürfen – die Maßnahme wurde mit 57 Prozent der Stimmen angenommen.
Es ist nicht so, dass man mit diesen Themen keine Wahlen gewinnen kann. Die Parteiführung kann dann nicht mehr die Aberhunderte Millionen und Milliarden Dollar aufbringen, die sie für ihre Wahlkampagnen braucht.
Aktivisten aus Pittsburgh, die einen großen Anteil daran hatten, dass Biden den Bundesstaat Pennsylvania gewann, haben gesagt, dass sie zum erstenmal schwarze Gelegenheitswähler an die Urnen bringen konnten, gerade weil sie so nachdrücklich den Entzug der Mittel für die Polizei gefordert haben.
Mir scheint, dass sich derzeit in den USA eine bedeutende Möglichkeit für den Aufbau einer Linken auftut, die den Antirassismus in den Vordergrund stellt. Und wenn man den Antirassismus in den Vordergrund stellt, beginnt man auch, sich gegen alle Formen des Ausspielens der rassistischen Karte zu wehren. Man beginnt, antirassistische Aktivisten in den Gemeinden, am Arbeitsplatz, in den Schulen usw. zu ermutigen.
Es war die multiethnische Arbeiterklasse in den Städten und Vorstädten, die die Wahl für Biden gewonnen hat. Und doch wollen sich die Demokraten genau gegen die Punkte wenden, die bei den fortgeschrittensten klassenbewussten, antirassistischen Mitgliedern dieser multiethnischen Arbeiterklasse den stärksten Widerhall finden.
Ich bin der Meinung, dass die Stärkung und Vertiefung der Verbindungen zu farbigen Gemeinschaften der Arbeiterklasse eine Priorität für die Linke in den USA ist. Der Aufstand nach der Ermordung von George Floyd zeigt, dass es eine sehr breite soziale Basis für eine Organisation auf dieser Grundlage gibt.
*Der Autor unterrichtet Geschichte an der Universität Houston/Texas. Er war lange Jahre bei den International Socialists in Kanada aktiv.
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