München: C.H.Beck, 2020. 442 S., 29,95 Euro
von Paul Michel*
Die Tito-Biographie von Marie-Janine Calic ist weit mehr als eine Schilderung des Lebens einer Person.
Calic beschreibt die Zeitumstände, mit denen sich Tito herumschlagen musste und die er im Lauf seines Lebens nachhaltig beeinflusste.
Sie gibt uns einen Einblick in die für Menschen in unserem Breitengrad weitgehend unbekannten gesellschaftlichen Entwicklungen im Jugoslawien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis zu Titos Tod 1980. Wir erfahren einiges über die Zustände im ländlichen Kroatien während der k.u.k.-Zeit, über die Odyssee Titos quer durch das revolutionäre Russland von Kasan nach St.Petersburg und zurück nach Omsk, über die brutale Verfolgung der Kommunisten während der Königsdiktatur nach 1929.
In den 30er Jahren rückt Tito in die Führungsriege der jugoslawischen KP auf. 1937 wird er deren Generalsekretär. Zur Zeit der Moskauer Prozesse ist Tito in Moskau und muss miterleben, wie seine damalige Frau Opfer der Säuberungen Stalins wird. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Jugoslawien organisiert er mit großer Umsicht den Widerstand.
Die zwei Kapitel, in denen Calic den Widerstand der Tito-Partisanen gegen die Nazibesatzer und ihre jugoslawischen Kollaborateure behandelt, bestechen durch kompakte, anschauliche Darstellung. Wir erfahren von den anfänglichen nadelstichartigen Aktionen der Partisanen und von den Massakern, mit denen das Oberkommando der Wehrmacht darauf reagiert. Calic stellt dar, wie die Partisanen im Kampf gegen einen militärisch übermächtigen Gegner immer stärker werden konnten, wie sie mit den von den Besatzern systematisch angeheizten Feindseligkeiten zwischen den Nationalitäten mit ihrer Strategie «Brüderlichkeit und Einheit» in allen ethnischen Gruppen Anhänger finden und schließlich das militärische Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten entscheiden konnten.
Das Kapitel «Der stalinistische Autokrat» handelt von der Festigung der Macht der KP in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und zeigt, dass die KP mit ihren Gegnern nicht gerade zimperlich umsprang. Es spricht vom Terror des Geheimpolizei OZNA und von zum Teil grausamen Racheaktionen an den besiegten Konterrevolutionären. Auch wenn die von Calic angeführten Fakten wohl zutreffend sind, so schimmert in diesem Kapitel doch ein Hauch von Totalitarismusdenken durch. Immerhin stellt Calic auch fest: «Bereits in dieser Zeit gab es allerdings auch Unterschiede zum bolschewistischen System. Die Jugoslawen setzen stärker auf Überzeugung, um den Sozialismus aufzubauen.» «Millionen Freiwillige packten mit aufrichtigem Enthusiasmus an, um Eisenbahnen, Industriebetriebe, Straßen und Wohnhäuser wiederaufzubauen.»
Erhellend sind die Kapitel über die Umstände von Titos Bruch mit Stalin 1948 und die innere Entwicklung Jugoslawiens von der zunächst noch stark von der KP geprägten Arbeiterselbstverwaltung hin zum stark westlich geprägten «Coca-Cola-Sozialismus» der 60er Jahre. Von 1957 bis 1961 wuchs die Wirtschaft um etwa 12 Prozent jährlich, es waren die höchsten Raten der Welt. Der «reife Titoismus» wurde in den 50er und 60er Jahren zum weltweit anerkannten Erfolgsmodell.
Ende der 60er Jahre wuchsen die wirtschaftlichen Probleme und damit die Nationalismen in den Teilrepubliken. Calic schildert die vielfältigen Formen, in denen nationalistische Aufwallungen ausbrachen. In den späten 60er Jahren tritt an die Stelle des Machtmonopols der KP eine Polyarchie der Machteliten der verschiedenen Teilrepubliken. Der Bund der Kommunisten hört auf, eine geschlossen handelnde Kraft zu sein und Impulse für die Entwicklung des Landes zu geben. Der Zustand der Lähmung verschärft die wirtschaftlichen Probleme, was die nationalistisch motivierten Verteilungskämpfe um den kleiner werdenden Kuchen anheizt und sozusagen das Feld für die späteren Exzesse bestellt.
Das Buch ist erfreulicherweise durchgängig sehr sachlich und bis auf wenige Passagen frei von antikommunistischen Stereotypen. Es ist ein idealer Einstieg für alle, die sich für die bemerkenswerte Entwicklung einer ungewöhnlichen Gesellschaftsform in einer Region Europas interessieren, die in den 50er und 60er Jahren Schlagzeilen machte, heute aber der Vergessenheit anheimgefallen ist. Eins allerdings ist die Tito-Biographie von Calic nicht: Eine linke Analyse dessen, warum die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung nach hoffnungsvollen Anfänge in nationaler Raserei und grausamen Schlächtereien endete. Die wartet noch darauf, geschrieben zu werden.
*Der Autor ist Herausgeber und Mitautor von Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung. Licht und Schatten, Neuer ISP Verlag 2020.
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