Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2021

Berlin: Dietz, 2020. 144 S., 16 Euro
von Reiner Tosstorff

Am 27.September 1928 veröffentlichte das KPD-Zentralorgan Rote Fahne eine Pressemitteilung. Auf einer Sitzung des Zentralkomitees seien Unterschlagungen in der Hamburger Parteiorganisation durch einen lokalen Funktionär namens John Wittorf erörtert worden.

Als er davon erfahren habe, habe der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann jedoch nicht die zuständigen Parteigremien informiert. Thälmann lasse nun seine Funktionen in der Partei ruhen, um dies durch die Führung der Kommunistischen Internationale erörtern zu lassen.
Mit viel Schadenfreude berichtete die bürgerliche und sozialdemokratische Presse über die Krise der Partei. Man sprach sogar fälschlicherweise von der Absetzung des Vorsitzenden, was oft genug ungeprüft in die Geschichtsschreibung Einzug gehalten hat.
Waren hier nun die Kämpfe in der KPD-Führung zwischen den eng an der sowjetischen Parteiführung um Stalin orientierten Freunden Thälmanns und ihren innerparteilichen, wiederum eng an Stalins Widerpart, Nikolaj Bucharin, orientierten Gegnern – im Parteijargon «Versöhnler» genannt – eskaliert? Dabei ging es u.a. darum, ob die Partei sich von der vergleichsweise erfolgreichen, maßgeblich von den «Versöhnlern» bestimmten Orientierung an der Einheitsfrontpolitik der Jahre zuvor abwenden sollte oder nicht. Dieser politische Konflikt hatte formell gar nicht auf der Tagesordnung gestanden, war aber zweifellos allen Beteiligten bewusst.
Doch bereits zwei Wochen später war alles vorbei. In Moskau war im Ergebnis der Beratungen Thälmann praktisch vollständig rehabilitiert worden. Der entscheidend an dem Beschluss beteiligte Stalin wollte offenkundig aus politischen Gründen Nachsicht walten lassen. Damit war Thälmann nun unangreifbarer Führer der Partei bis zu seiner Verhaftung im März 1933, zu Beginn der Nazidiktatur.

Geheimnisse eines Panzerschranks
In die Geschichtsschreibung ist dies als «Wittorf-Affäre» eingegangen und als ein folgenreicher Einschnitt herausgearbeitet worden, wenn auch manchmal mit etwas «großzügiger Ausgestaltung» – siehe Thälmanns angebliche Absetzung. Zwar waren die groben Abläufe und auch die Konsequenzen für die Disziplinierung der Partei bekannt. Doch wie genau war die Affäre zustande gekommen?
Während die Entscheidungsprozesse in Moskau und die vor­ausgehenden und nachfolgenden Kämpfe im politischen Führungszirkel in der KPD seit der Öffnung der Archive nach 1989 inzwischen in zwei Dokumentenbänden zusammengetragen sind, fehlten bislang die Dokumente über das «Heranwachsen» der Affäre, über die genauen Abläufe der Aufdeckung der Korruptionsaffäre und die Klärung der Verantwortlichkeiten, insbesondere der Rolle Thälmanns. Das kann nun nachgeholt werden.
Denn im Jahre 2018 wurde im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, dem einstigen Sitz der KPD und dem heutigen der LINKEN, ein Panzerschrank geöffnet, der nach der Wende dorthin gebracht und dann offensichtlich vergessen worden war. Nun fanden sich darin neben anderem Material die bisher gänzlich unbekannten Dokumente von der Untersuchung durch die KPD: Berichte von den Befragungen der Beteiligten, Stellungnahmen, Briefwechsel zwischen den verschiedenen Leitungsgremien in Hamburg und Berlin usw.
In dem hier vorliegenden kompakten Buch wurden sie nun durch den Historiker Ronald Friedmann, Verfasser u.a. einer lesenswerten Biographie von Arthur Ewert, einem der führenden Köpfe der «Versöhnler» und demzufolge Widersacher von Thälmann, öffentlich gemacht. Sie lassen eine genaue Rekonstruktion der Abläufe zu: Wie Ende April 1928 das Fehlen eines hohen Betrags in der Hamburger Parteikasse auffiel und John Wittorf, Sekretär der KPD-Bezirksleitung, daraufhin den Kassierer beschuldigte. Doch bald kam nach genauer Buchprüfung heraus, dass er selbst es gewesen war. Er hatte sich damit seinen «exzessiven» Lebensstil finanziert. Thälmann, im Mai davon bereits in Kenntnis gesetzt, versuchte das zu verschleiern und war mit daran beteiligt, alles auf den ahnungslosen Kassierer abzuwälzen.
Warum tat er das? Das lässt sich allerdings auch mit diesen Dokumenten nur vermuten. Zwar gehörte Wittorf, ehemaliger Hafenarbeiter wie Thälmann und fälschlicherweise oft als sein Schwager bezeichnet, zu seinem engsten persönlichen Kreis in der Stadt. Doch der Betrag kam von der sowjetischen Handelsvertretung, war also Teil der Subventionen aus Moskau und tauchte in den Kassenbüchern nur verschleiert auf. Wurde diese Unterschlagung auch nur einem breiteren Kreis bekannt, war das vielleicht nicht mehr zu verbergen. Vielleicht hat Thälmann aber auch gar nicht so weit gedacht, sondern es ging einfach nur um Nachsicht gegenüber einem alten Kumpel.
Thälmann weilte im Sommer 1928 mit einer KPD-Delegation auf dem VI.Weltkongress der Kommunistischen Internationale, auf dem Stalin die Kontrolle über sie verschärfte, in Moskau. Als sich der beschuldigte – und ausgeschlossene – Kassierer an die Parteiführung wandte, musste die Angelegenheit von den in Berlin Zurückgebliebenen untersucht werden. Mit den Ergebnissen wurde Thälmann nach seiner Rückkehr konfrontiert. Er beharrte darauf, mit der Verschleierung (und einer versprochenen stillschweigenden Bereinigung der Unterschlagung) Schaden von der Partei abgewendet zu haben.

Gelegenheit zur Säuberung
Der einstimmige Beschluss des ZK, die Entscheidung über die Angelegenheit Moskau zu übertragen, sollte sich allerdings als Bumerang erweisen. Zumindest für diejenigen, die erwartet hatten, dass die Komintern-Führung Thälmann ein solches Verhalten nicht einfach durchgehen lassen werde. Sicherlich dürfte dieser aufgrund seiner Teilnahme am Komintern-Kongress geahnt haben, dass er die Rückendeckung Stalins haben würde. Und so geschah es denn auch.
Thälmann nutzte dies dann auch umgehend zu einer innerparteilichen Offensive und drängte innerhalb weniger Wochen seine Widersacher aus der Parteiführung oder sogar aus der Partei. Bei allem Hin und Her in den folgenden Jahren war er nun der Garant für die Befolgung der Vorgaben der Stalinschen Führung in Moskau. Damit war der Prozess der Stalinisierung der KPD abgeschlossen.
Friedmann schildert in seiner langen Einleitung diesen Ablauf sachkundig, sodass die folgenden fünfunddreißig Dokumente genau eingeordnet werden können. Was aber leider fehlt, ist eine ausführliche Einordnung in den parteipolitischen Kontext und ein Ausblick auf die Folgen, speziell die Linie des «Sozialfaschismus» und der «Revolutionären Gewerkschafts-Opposition» ab 1929. Sie stellte einen verhängnisvollen Beitrag zur Verhinderung des Kampfes um eine Einheitsfront gegen den Faschismus dar.
Für Thälmanns politischen Einsatz dankte Stalin ihm aber nach seiner Verhaftung durch die Nazis nicht. Wie wir inzwischen wissen, bedachte er verschiedene Vorschläge, Thälmann nach dem Hitler-Stalin-Pakt in einem Austausch freizubekommen, wie das mit spanischen und ungarischen Parteiführern geschah, mit der Bemerkung «Ablage». Im August 1944 wurde Thälmann vermutlich im KZ Buchenwald auf direkte Anweisung Hitlers umgebracht.

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