Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2021

Musik zwischen Freiheit, kultureller Aneignung und Rassismus
von Ravi T. Kühnel

Ich mag Jazz. Jazz ist die Chaostheorie der Musik. Er mag sich auf den «ersten Blick» chaotisch anhören, doch ist er bei näherem Zuhören das geordnete Chaos.

Einst die Musik der Afroamerikaner, ist Jazz heute zumeist in elitären Kreisen zu hören. Leidet Jazz unter kultureller Aneignung und ist das Wort gar rassistisch?
Wir schreiben das 19.Jahrhundert. Aus Blues, Gospel und Ragtime entsteht eine neue Musikrichtung, der Jazz. Genau kann man nicht sagen, wo er herkommt, aber es wird vermutet, dass er in New Orleans geboren wurde, daher wird der erste Jazz-Stil auch «New Orleans Jazz» genannt.
Gespielt wurde Jazz zumeist von Afroamerikanern in den dunklen Spelunken und verräucherten Lokalen der Armenviertel. Doch in den Straßen von New Orleans gab es von Beginn an auch weiße Bands. Da damals in den USA noch Rassentrennung galt, lieferten sich weiße und schwarze Bands auf den Straßen musikalische Duelle.
Die Spielart der Weißen entwickelte sich zum Dixieland Jazz weiter. Ab Mitte der 1920er Jahre kam die wohl populärste Stilrichtung des Jazz auf, der Swing. In der Weltwirtschaftskrise schlossen sich viele weiße Musiker zu Big Bands zusammen, sie machten den Swing populär.
Wegen des ausgeflippten Tanzstils und des schnellen Rhythmus war er bei der amerikanischen Jugend sehr beliebt und wurde schnell zur vorherrschenden Populär- und Unterhaltungsmusik. Auch heute werfen Jazzmusiker dem Swing vor, er sei nur entstanden, um Jazz für weiße Menschen tanzbarer zu machen.
Ab den 50er Jahren erfuhr der Jazz eine Wandlung. Ein Teil der Musiker pflegte die alten Jazzstile weiter, andere begannen, Mischformen aus älteren und neuen Stilen zu entwickeln. Die Entwicklung verzweigte sich zunehmend, der Modern Jazz war geboren, 1957 fand er Einzug in die akademische Welt. Die Konzertreihe der «Lenox School of Jazz» zog durch ihre anspruchsvolleren, oft dissonanten und instrumentalen Klänge immer mehr weiße Menschen an. Spätestens im Jahr 1987 fand der Jazz vollends Aufnahme in die soziale Elite.
Der amerikanische Kongress machte ihn zu einem nationalen Kulturgut, woraufhin er in das Programm des Lincoln Center in New York aufgenommen und ein nationales Jazz-Orchester gegründet wurde. Das Lincoln Center gilt als Gradmesser für kulturelle Aneignung. Fundraising, Ticketabos, Sponsoring durch Unternehmen und Werbung für Luxusmodemarken machen «Jazz im Lincoln Center» zur Zielscheibe für die Kritik an seiner Vereinnahmung.

Jazz und Sklaverei
Die Entstehung des Jazz hat ihre Wurzeln im Kolonialismus. Ohne diese Zeit hätte es Musikformen wie Gospel, Blues oder Jazz nie gegeben. Deren Wurzeln liegen in der afrikanischen Musik, die auf Trommeln basiert. Damals wurden keine Noten aufgeschrieben, vieles beruhte auf Improvisation. Davon wurde auch der Jazz geprägt.
Als in der Zeit zwischen dem 17. und 19.Jahrhundert mehr als elf Millionen Menschen als Sklaven nach Amerika verfrachtet wurden, verboten die Plantagenbesitzer die rhythmischen Instrumente. Musik kann man jedoch schlecht verbieten. Die Sklaven begannen nun zu singen, einerseits um zu kommunizieren, andererseits um ihr Leid zum Ausdruck zu bringen. Die sogenannten Work Songs entstanden, die bis heute bekannt sind. Sie sind der Ursprung von Jazz, Blues und Gospel.
Ohne diese Musik hätte es auch keinen Rock’n’Roll, Hip-Hop, Funk und Reggae gegeben. Wenn man Jazz betrachtet, darf man die kulturelle Geschichte dahinter nicht vergessen.

Kulturelle Aneignung
Gibt man heute Jazz bei iTunes ein, begegnen einem zumeist weiße Gesichter. Afroamerikaner haben den Jazz erfunden und gelebt, doch weiße Menschen profitieren davon. Denn die Plattenfirmen und Streamingplattformen gehören meist weißen Menschen. Der Begriff, der dies beschreibt, nennt sich «white washing». Spielen weiße Menschen Jazz, so wird, wie auch im Hip-Hop, der Kontext verändert. «You can’t have the culture without the struggle» – du kannst die Kultur nicht ohne das Leid leben, Stichwort: kulturelle Aneignung.
An dieser Stelle möchte ich Alice Hasters aus ihrem vor kurzem erschienenen Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten zitieren: «Weißen Menschen wurde die Teilhabe an anderen Kulturen nie explizit verweigert – deshalb sehen viele diese Grenzen auch nicht und bedienen sich weltweit an kulturellem Erbe. Es ist eine Fortsetzung kolonialer Strukturen.»
Wenn uns das bewusst ist, können wir auch die positiven Auswirkungen des Jazz in der heutigen Zeit betrachten. Hier engagieren sich viele Pioniere gegen Rassismus und Diskriminierung. Auf der Bühne eines Jazzfestivals oder in der Big Band verschwimmen die Grenzen zwischen Religionen, Herkunft und Hautfarbe.
Die Jazz-Szene ist sehr gemischt, doch bereitet es einigen Jazzmusikern Sorge, dass im Publikum meist ein Mangel an Vielfalt herrscht. Das junge Jazztalent Cécile McLorin Salvant äußert in einem Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen: «Wenn ich auftrete, sehe ich kaum junge farbige Menschen vor mir. Es ist, als hätten Schwarze in diesem Land ihre eigene Musik vergessen. Jazz ist zur Musik einer Elite geworden.»

Ist der Begriff Jazz rassistisch?
Der Begriff «Jazz» tauchte erstmals im Jahre 1913 während eines Baseballspiels auf. Ein Zeitungsreporter kritisierte das Team der San Francisco Seals mit den Worten: «Die bemitleidenswerten Seals haben ihren ‹jazz› verloren und wissen nicht, wo sie ihn wiederfinden sollen.» Jazz war hier synonym für enthusiastisch, schwungvoll. Ein Redakteur derselben Zeitung griff wenige Tage später den Begriff wieder auf, er schrieb: «Dieses bemerkenswerte … Wort … bedeutet so etwas wie Leben, Kraft, Energie, Aufbrausen des Geistes, Spaß, Schwung, Anziehungskraft, Elan, Männlichkeit, Mut, Glück. Oh, worum geht’s? – JAZZ.»
Einige Zeit später, am 11.Juli 1915, wurde der Begriff im Zusammenhang mit einem Rag von Art Hickman in der Zeitung Chicago Daily Tribune vom Baseball auf den sich neu entwickelnden Musikstil übertragen. Der Begriff Jazz war geboren. Der Musikwissenschaftler Maximilian Hendler betont daher richtig, «dass der Begriff Jazz von seinem Ursprung her weder musikalische noch stilistische, sondern soziale Konnotationen hatte». Er meint, der Begriff drücke ein «abwertendes Urteil der Master-Gesellschaft gegenüber allen Erscheinungsformen von Musik aus, die nicht den von ihr ge­setz­ten Normen entsprechen».
Auch viele Jazzmusiker lehnten den Begriff Jazz ab. Miles Davis zum Beispiel sagt, Jazz sei «ein Wort des weißen Mannes». Davis wollte immer Musik für Schwarze machen, doch er musste feststellen, dass sein Publikum überwiegend weiß war. Man sagt ihm nach, dies sei der Grund, warum er später fast nur noch mit dem Rücken zum Publikum spielte. Der wahre Grund jedoch war, dass Miles Davis sich so besser auf seine Musik und die Band konzentrieren konnte.
Auch andere Musiker wie Orrin Evans lehnten den Begriff Jazz ab. Evans sagte, Jazz sei «ein repressiver, kolonialistischer Sklavenbegriff». Der Trompeter Nicholas Payton schlug 2011 vor, den Begriff Jazz durch Black American Music (BAM) zu ersetzen. Auch ihm war wichtig, dass BAM eine Erfindung schwarzer Amerikaner sei und dies bitte anerkannt werden sollte.
Auch wenn «Jazz» heute ein Raum ist, in dem Grenzen zwischen Herkunft, Hautfarbe und Religionen verschwimmen, sollten wir uns eines immer bewusst sein: «Jazz» ist keine Musik der Weißen, sie ist und war eine Kultur der Afroamerikaner und ist eng mit Rassismus und Klassismus verbunden.

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