Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2021

Zum 90.Geburtstag des Schriftstellers Thomas Bernhard
von Kurt Hofmann

Anders als die von ihm so oft beschriebenen renitenten, letztlich sterbensunwilligen Greise ist Thomas Bernhard nur 58 Jahre alt geworden. Er zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern der jüngsten Vergangenheit.

Heuer hätte er das 90.Jahr erreicht: Erinnerung an einen Widerspenstigen.
 
«Kein Grund zum Pessimismus und
es hat auch keinen Zweck.
Zwar ist es wahr, man geht zu Grund,
doch kommt man nicht vom Fleck.»
Karl Kraus, «Die österreichische Lage»
(Die Fackel, März 1922)

Seine zahlreichen Feinde haben den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard immer wieder als «Nestbeschmutzer» bezeichnet, doch angesichts dessen, was in diesem «Nest» schon ausgebrütet wurde, ist dies wohl ein Ehrentitel. Bernhards Verhältnis zu dem Land, in dem er lebte, ist ein zentrales Motiv in seinem Werk: «Ich wünschte dieses Land | verschwände eines Tages | oder noch besser | urplötzlich in der Nacht | durch ein Erdbeben | dieses scheußliche Vaterland | Dann denke ich wieder | dass wir kein besseres haben.» So äußerte sich Voss in Ritter Dene Voss (1986), und die plötzliche Infragestellung des eben Gesagten ist durchaus Bernhard-typisch. «Kein besseres», das heißt allerdings im Bernhardschen Sinn: auch kein gutes. Und das mit dem «Vaterland» ist ohnedies eine fragwürdige Konstruktion…

«Sie mit ihrem Kommunismus!», sagt die Generalin in Die Jagdgesellschaft (1974) zum Schriftsteller, wissend, dass dieser nur ihr Hofnarr ist, der sie mit seinen Sentenzen unterhält. Dessen Monolog handelt von den Borkenkäfern, die dem herrschaftlichen Wald bald ein Ende bereiten werden. Dem General, der am Grünen Star leidet, ist dies verschwiegen worden. Der Wald ist ebenso ein Synonym wie die Augenerkrankung des Generals (nichts sehen wollen, blind sein für…): Dieser falsche Glanz wird verschwinden, doch einer wie der Schriftsteller in Die Jagdgesellschaft wird nichts tun, um dies zu beschleunigen, dafür schmeckt der Sekt am Tisch der Generalin zu gut…
Charakteristisch für Bernhardsche Bühnenfiguren ist, wie miteinander geredet wird: Es ist ein mittelbarer, kein unmittelbarer Dialog im Sinne eines Austauschs. Dem/der monologisch Sprechenden geht es nicht um Kommunikation, sondern um Mitteilung. Auch dem Großindustriellen Herrenstein in Bernhards letztem Stück Elisabeth II. ist seine Umgebung, durch die er allerdings definiert wird, zuwider, er weiß um deren (und seine) Endlichkeit, die im Stück schließlich auf drastische Weise vorgeführt wird: Anlässlich des Besuchs der englischen Königin in Wien stellt Herrenstein seinen Balkon diversen Bekannten aus dem großbürgerlichen Milieu als Aussichtswarte zur Verfügung, am Ende von Elisabeth II. stürzt er prompt in die Tiefe. Herrensteins lakonische Anmerkung, es seien wohl alle tot, steht am Ende des Stücks…
Noch einmal zu Elisabeth II. und damit zu einer Bernhardschen Konstante: wie die monologisierenden Hauptfiguren mit ihrer Umgebung umgehen. Trotz täglicher Bosheiten seitens Herrenstein ist die Haushälterin Frau Zallinger geblieben. Herrenstein, der weiß, dass sie einst Pianistin werden wollte, ersucht sie, ihm mal wieder etwas vorzuspielen, er vermisse ihr Spiel, aber nach wenigen Takten unterbricht er sie, so ein Mangel an Talent sei doch nicht auszuhalten…

Der einstige Staatsschauspieler Bruscon hat ein Stück geschrieben, welches sich «Das Rad der Geschichte» nennt, und, geht es nach Bruscon, zu Höherem, wenn nicht einem Welterfolg, bestimmt ist. Doch vorerst plagt er sich durch die österreichische Provinz mit seinem Ensemble, das aus seiner Frau und seinen beiden Kindern besteht, die er allesamt für komplett untalentiert hält (und diese das auch unausgesetzt spüren lässt…). Dorf für Dorf wird abgeklappert, wo immer auch ein Theatersaal zur Verfügung steht. Nun sind Bruscon und die Seinen in einem Nest namens Utzbach (ein Tiefpunkt, meint Bruscon) angekommen. Den Theatersaal im Wirtshaus inspizierend, bemerkt Der Theatermacher (1985) an der Wand ein Bild. Bruscon: «Ist das nicht ein Hitlerbild?» Wirt: «Ja freilich!»… Die beiläufige Antwort des Wirts, so, als sei dieses Bild an der Wand die größte Selbstverständlichkeit und nicht zu hinterfragen, ist ein Bernhardsches Meisterstück. In Dörfern wie Utzbach oder (möglicherweise auch in Bernhards aufgrund seiner Lungenkrankheit aufgezwungenen Rückzugsort Ohlsdorf…) ist ein vergilbtes Hitlerbild Teil der Folklore. Auch das «darauf vergessen haben» wird in solchen Fällen gelegentlich bemüht, sogar dann, wenn es sich um eine einst verliehene Ehrenbürgerschaft an Hitler handelt, die nie sistiert wurde. Jedenfalls schließt das Vergessen eigene Verstrickung mit ein…
Bruscon jedenfalls fühlt sich bei den ProvinzlerInnen missverstanden, welch ein Abstieg (wenn man ihm denn seine große Vergangenheit glaubt…), ob aber sein Stück, in dem Cäsar, Hitler, Stalin, Kierkegaard, Churchill, Einstein und viele andere ihren Auftritt haben, Bruscons hohen Ansprüchen gerecht wird, ist ohnedies die Frage… Rückhaltlose Bewunderung erwartet Bruscon allerdings von seiner Familie, und wenn die Tochter auf das Stichwort «Wer ist dein Vater?» die gewünschte Antwort («Der größte Schauspieler aller Zeiten!») verweigert, hilft er mit Druck nach. Doch alle Familienmitglieder bleiben letztlich «bei der Stange», sind mit dem monologisierenden Selbstverliebten zu sehr verbunden, um auszubrechen: eine sadomasochistische Konstellation, wie in vielen anderen Stücken…
«Was hier | in dieser muffigen Atmosphäre | Als ob ich es geahnt hätte», sagt Bruscon am Beginn von Der Theatermacher und es war in allen Aufführungen ein sicherer Lacher. Doch nicht immer hilft eine Pointe. 1986: Die «Waldheim-Affäre» enthüllt die Vergangenheit des Präsidentschaftskandidaten als Leutnant am «Balkan» während des Zweiten Weltkriegs, als Adjutant des Kriegsverbrechers General Löhr. Doch Waldheim kann und will sich nicht erinnern. Schließlich sagt er, in die Enge getrieben, er habe damals «nur seine Pflicht» getan… Danach wird erstmals, nur 41 Jahre nach Kriegsende, durch einen (sozialdemokratischen) Kanzler Österreichs offiziell mit der Legende von Österreich als «erstem Opfer Hitlers» aufgeräumt… Gleichzeitig beginnt der Aufstieg des rechten Demagogen Haider, der auf Hetze setzt…
1988: Burgtheaterdirektor Claus Peymann sucht nach einem Stück für das Bedenkjahr (50 Jahre «Anschluss» Österreichs an Hitlerdeutschland) und wird bei Thomas Bernhard fündig, der für ihn Heldenplatz schreibt. Bald schon werden durch gezielte Indiskretionen Sätze aus dem Stück bekannt, aus dem Zusammenhang gerissen, und prompt diskutiert halb Österreich über das Stück – ohne es zu kennen.
Am Premierentag ist auf der Titelseite des auflagenstärksten (Boulevard-)Blatts Kronen Zeitung eine Fotomontage zu sehen, in der das Burgtheater in Brand gesetzt ist… Vor dem Theater laden Ultrarechte einen Misthaufen ab und werfen einen Brandsatz, im Theater krakeelen deren Spießgesellen, darunter der spätere Haider-Erbe H.C.Strache, von der Galerie herab. Doch sie und andere, die wie die Pawlowschen Hunde auf die speziellen Textpassagen warten, müssen sich in Geduld üben. Denn Stück und Inszenierung sind wie eine Symphonie aufgebaut und scheren sich nicht um Voyeuris­mus.
Eine Totenfeier: Anlässlich des Begräbnisses von Professor Josef Schuster, einem jüdischen Wissenschaftler, der 1938 nach England emigriert, dort in Oxford lehrt, in den 50er Jahren nach Österreich zurückkehrt und sich 1988, weil er am wieder erstarkten Antisemitismus verzweifelt, das Leben nimmt, trifft die hinterbliebene Familie einander. Da ist Trauer, sowie Wut, da wird Erinnerung von der Gegenwart eingeholt. Und schließlich kommt die Passage, auf die die Pawlowschen Hunde im Publikum gewartet haben. Professor Robert, der Bruder des Verstorbenen sagt: «Österreich selbst ist nichts als eine Bühne | auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist | eine in sich selbst verhasste Statisterie | von sechseinhalb Millionen Alleingelassenen | sechseinhalb Millionen Debilen und Tobsüchtigen, die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem Regisseur schreien | Der Regisseur wird kommen | und sie endgültig in den Abgrund hinunter stoßen…»
Der «Übertreibungskünstler» Bernhard hatte mit den «sechseinhalb Millionen Debilen und Tobsüchtigen» eine bittere Pointe gesetzt, aber gleich der Vergrößerung von nicht sichtbaren (= übersehenen) Details in einem Bild für Aufklärung gesorgt, einen Lautsprecher gegen das Schweigen angesetzt. Die Premiere wird schließlich – trotz der Schreier – ein Erfolg, die Aufführung danach über hundertmal gespielt, manche, die zuvor empört waren, sind etwas später begeistert, haben es «immer schon gewusst» – auch das ist Österreich. Thomas Bernhard war für derlei «späte Einsichten» aber ohnedies nie zu haben: «Was die Schriftsteller schreiben … ist ja nichts gegen die Wirklichkeit | die Wirklichkeit ist so schlimm | dass sie nicht beschrieben werden kann» (Heldenplatz).

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