Organizing an Schulen
von Christoph Wälz*
Die Impulse der US-Organizerin Jane McAlevey für ein „tiefes“ Organizing werden in Deutschland zu Recht mit großem Interesse diskutiert und ausprobiert.
Eine Auseinandersetzung in der GEW Berlin hat gezeigt, welches Potential eine ermächtigende, von McAlevey inspirierte Basiskampagne haben könnte.
In der SoZ 01/2021 hat Violetta Bock die Kritik Kim Moodys an McAleveys Organizing-Konzept zusammengefasst. Im Kern geht es Moody darum, dass McAlevey die schädliche Rolle der Gewerkschaftsbürokratie sowie die Bedeutung betrieblicher Kerne von AktivistInnen nicht sehe und stattdessen die Rolle hauptamtlicher OrganizerInnen überbetone.
Mir fällt es schwer, Moodys Kritik nachzuvollziehen. Eher entsteht für mich der Eindruck einer künstlichen Gegenüberstellung von Basisinitiative und hauptamtlichem Organizing. Einer Auseinandersetzung damit möchte ich mich über meine eigene Erfahrung nähern und erzählen, wie wir im Berliner Landesverband der Bildungsgewerkschaft GEW 2019 um einen kämpferischen Basiskurs gerungen haben.
Arbeitsbelastung an Schulen
Seit vielen Jahren belegen Studien die hohe Arbeitsbelastung von PädagogInnen an Schulen. Dies betrifft sowohl Lehrkräfte als auch Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst. Die Möglichkeiten der GEW, durch Streiks eine Verkürzung der Arbeitszeit der Lehrkräfte herbeizuführen, sind dabei sehr begrenzt. Das gilt zumindest dann, wenn die Streiks nach herrschender Rechtsauffassung „legal“ sein sollen. Denn die Mehrheit der deutschen Lehrkräfte unterliegt dem Beamtenrecht. Auch der Tarifvertrag der Länder, der für die Minderheit der angestellten Lehrkräfte gilt, koppelt deren Arbeitszeit an das Beamtenrecht.
Die Lehrkräfte in den USA haben seit 2017 gezeigt, dass bei einer sehr hohen Streikbeteiligung und mit einer Verbindung des Interesses der PädagogInnen mit dem Interesse der SchülerInnen und Eltern auch Lehrkräftestreiks, die nach herrschender Rechtsauffassung „illegal“ sind, gewonnen werden können. McAleveys Konzept fokussiert darauf, Betriebe möglichst vollständig zu bestreiken, um zu verhindern, dass einzelnen Streikenden danach arbeitsrechtliche Konsequenzen drohen.
An einem vergleichbaren Punkt steht die deutsche GEW noch nicht. Trotz einer Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht setzt sie nach wie vor darauf, das Beamtenstreikrecht nur auf juristischem Wege durchzusetzen. Für eine Reduzierung der Arbeitszeit durch „legale“ Streiks der angestellten Lehrkräfte bestehen zur Zeit sehr ungünstige Rahmenbedingungen.
Die Forderungen der pädagogischen Berufsgruppen können aber auch in anderer Form durchgesetzt werden, zum Beispiel durch politischen Druck auf die jeweilige Landesregierung für Verbesserungen in den beamtenrechtlichen Verordnungen oder für Entlastung durch Dienstvereinbarungen im Sozial- und Erziehungsdienst.
Aktiv für Entlastung
In der GEW Berlin starteten wir nach mehreren vergeblichen Versuchen, Entlastung zu erreichen, im Frühjahr 2019 einen neuen Anlauf, der auch von den US-amerikanischen Erfahrungen inspiriert wurde. In der Gewerkschaft hatten sich Aktive vor allem aus der mittleren Funktionärsebene (Bezirksleitungen, Personalräte) zusammengefunden, um mit langem Vorlauf und mit Blick auf die Abgeordnetenhauswahlen im Herbst 2021 ernsthaft Protest zu entwickeln. Aufgrund der genannten rechtlichen Schwierigkeiten strebten wir nicht unmittelbar Streiks an. Die Idee war, durch organisierende Arbeit an den Schulen aktive Gruppen zusammenzubringen, die den Protest von unten tragen.
Auf der Landesdelegiertenversammlung (LDV), dem höchsten Gremium der GEW Berlin, stimmte im Mai 2019 eine große Mehrheit für unseren Antrag. Dessen Anliegen war, Diskussionen in den Bezirksverbänden zu organisieren, um die Bereitschaft zu erkunden, sich an einer Kampagne für die Durchsetzung der GEW-Forderungen zu beteiligen. Damit sollte „eine breite Basis“ für die Kampagne geschaffen werden. Die Diskussion in den Bezirken sollte bei der nächsten LDV im November 2019 ausgewertet werden, um dann über weitere Schritte abzustimmen.
Bereits auf der LDV brachten wir Ideen aus dem Erfahrungsschatz McAleveys ein: Das Gewinnen großer Mehrheiten der Beschäftigten an einer Mehrheit der Berliner Schulen könnte die Basis für eine erfolgreiche Kampagne werden. Denn zu oft scheiterten bislang Mobilisierungen außerhalb der Arbeitszeit daran, dass die meisten nicht daran glaubten, dass sich eine Beteiligung lohnen würde.
In den folgenden Wochen entwickelten wir die Petition „Aktiv für Entlastung“. Sie verband die GEW-Forderungen mit der Zusage, dafür aktiv zu werden, sofern sich die Mehrheit der PädagogInnen an den Berliner Schulen ebenfalls dazu bereit erklären würde. Inspiriert wurde dies von McAleveys „Mehrheitspetition“ und den von ihr propagierten „Streiks einer sehr großen Mehrheit“.
Von Leuchttürmen zur Gegenmacht
Wir führten Dutzende Gespräche mit Aktiven an Schulen. Viele waren bereit, den ersten Schritt zu machen und mit Hilfe der Petition eine Mehrheit ihres Kollegiums zu gewinnen. Zunächst ging es uns um einen Testlauf an ausgewählten Schulen, die in der zweiten Kampagnenphase zu „Leuchttürmen“ werden könnten, um die Schulen in der ganzen Stadt zu organisieren.
Die Debatte wurde also nicht auf bezirklichen Mitgliederversammlungen geführt, an denen oft nur ein sehr geringer Teil der Mitgliedschaft teilnimmt, sondern am Arbeitsplatz der Lehrkräfte und Erzieher*innen. Die Ergebnisse waren überwältigend. Die Aussicht, dass die Gewerkschaft eine Mehrheit organisieren würde, motivierte 1348 Beschäftigte an 29 Schulen, die Petition zu unterschreiben. Das waren knapp 63 Prozent der an diesen Schulen beschäftigten PädagogInnen.
Getragen wurde dieser Kampagnenschritt durch ein Unten-Mitte-Bündnis der gewerkschaftlichen Hierarchie (betrieblich Aktive und Teile der Bezirksleitungen), während der Geschäftsführende Landesvorstand umso vehementer gegen uns vorging, je erfolgreicher wir den Stein ins Rollen brachten.
Er warf uns vor, den LDV-Beschluss falsch auszulegen und zudem eine geplante Tarifkampagne für kleinere Klassen zu gefährden, deren parallele Durchführung zu der von uns angeschobenen Kampagne rechtlich nicht möglich sei. Den Versuch, unser Vorgehen durch einen Beschluss des Landesvorstands auszubremsen, konnten wir abwehren: Wir gewannen eine Mehrheit im Landesvorstand.
Bei der LDV im November 2019 zogen wir eine positive Bilanz der ersten Kampagnenphase. Wir beantragten, die Kampagne von einzelnen „Leuchtturmschulen“ auf die ganze Stadt auszuweiten und eine Mehrheit aller 858 Schulen zu gewinnen. Bei der folgenden LDV im Frühjahr 2020 wollten wir dann erneut Bilanz ziehen und diskutieren, ob die gewonnene Basis für eine Kampagne zur Durchsetzung der Forderungen ausreicht.
Kampf um das Recht
In der entscheidenden Abstimmung gewannen wir leider nur 38 Prozent der Delegierten für diese Perspektive. Die Landesspitze hatte ein Oben-Mitte-Bündnis gegen uns geschmiedet, die Tarifkommission der angestellten Lehrkräfte und Teile der Bezirksleitungen hinter sich gebracht. Sie konfrontierte die Delegierten mit der Expertise der GewerkschaftsjuristInnen, die belegen sollte, dass unser Weg gefährlich sei.
Hier ist nicht der Platz, die juristische Debatte nachzuzeichnen. Entscheidend war für uns, dass wir um die Ausweitung unserer Handlungsoptionen kämpfen müssen. In Tarifkämpfen der Pflegekräfte wurde vorgemacht, wie Streiks für Tarifforderungen und Proteste für politische Forderungen sich ergänzen können, ohne die Streiks zu gefährden.
Die Niederlage auf der LDV hat uns zurückgeworfen. In den vielen Diskussionen, die wir zwischen Kopierer und Kaffeemaschine geführt haben, schimmerte durch, dass die bisherigen Mobilisierungen nur an der Oberfläche gekratzt hatten. Eine kämpferische Kampagne, die ein zentralisiertes Ziel und Vorgehen mit einer organisierenden Selbstermächtigung der Basis verknüpft, hätte einen massiven Protest lostreten können.
Für uns Entlastungsaktive gab es dabei keine starre Grenze zwischen politischer Kampagne und politischem Streik. Wenn wir Zehntausende PädagogInnen auf die Straße bringen würden, dann stünde automatisch die Frage im Raum, wie wir den Druck steigern können.
Organisieren und gewinnen
Entscheidend dafür, dass wir dennoch eine Dynamik erlangen konnten, war der Impuls der Debatte um ein „tiefes“ Organizing: Schlüsselaktive in den Schulen finden und Mehrheiten sowohl auf betrieblicher als auch auf Landesebene gewinnen. Organizing-Methoden wie das Mapping des Arbeitsplatzes oder die Mehrheitspetition waren dabei zentral.
Wir haben keinen Gegensatz von ehrenamtlicher Initiative und hauptamtlichem Organizing gesehen. Unser Ansatz wurde ausschließlich durch Ehrenamtliche verwirklicht. Wir wussten aber, dass wir für den zweiten Kampagnenschritt hauptamtliche Unterstützung brauchen würden. Deshalb hatten wir der LDV im November 2019 einen Antrag zur Schaffung einer Organizing-Stelle vorgelegt.
Unserer Initiative, die sich auf McAlevey berief, wird man kaum vorwerfen können, die Bedeutung der Basis zu gering eingeschätzt zu haben. Betriebliche Aktivenkerne waren Dreh- und Angelpunkt unserer Aktion. Die schädliche Wirkung einer Führung, die dadurch ihre Stellvertreterpolitik und ihre Top-down-Initiativen gefährdet sieht, konnten wir gar nicht übersehen.
Deshalb resümierte ein beteiligter Kollege auch, wir müssten aus den Erfahrungen der Chicagoer Lehrkräfte, die McAlevey beschreibt, lernen: Für diese wurde ein Organizing, das entschieden auf Kampf orientiert, erst möglich, nachdem sie ihre Führung ausgetauscht hatten.
* Der Autor ist Vorsitzender des GEW-Bezirksverbands Berlin-Pankow.