Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Arbeitskämpfe 2. Februar 2021

Hier kommen ArbeiterInnen zu Wort
von Clemens Melzer*

Auf dem YouTube-Kanal erzählen Arbeiterinnen und Arbeiter, wie ihr Alltag aussieht, was sie morgens motiviert aufzustehen und wie sie für ein besseres Leben kämpfen.

»Ich kann mich gut erinnern an eine Kundin, sehr schick angezogen und mit schicker Handtasche. Die kam zu mir an die Kasse und hat gesagt, sie möchte hier ein Service kaufen, denn das gebe es nur noch bei uns, und ich solle ihr das bitte jetzt an die Kasse tragen. Sie lief dann vor mir her, schaute mich von oben bis unten an und meinte: Sie sehen etwas plump und ungeschickt aus. Ich solle aufpassen, dass nichts passiert, denn das Service brauche sie dringend. Und mir ist es dann tatsächlich runtergefallen.»
Bei ihren Geschichten darüber, wie man Rückgrat zeigt, auch wenn einen die Leute verachten und beleidigen, lächelt Sabine verschmitzt. Seit ihrer Ausbildung arbeitet sie bei Galeria Karstadt Kaufhof in Mannheim, Verkäuferin war immer ihr Traumberuf. Jetzt machen die Einsparungspläne des österreichischen Milliardärs René Benko, der sich mehr für Immobilien als für stationären Einzelhandel interessiert, diesen Beruf kaputt. Im Gespräch mit der selbstbewussten Betriebsrätin, die weiß, wie man Arbeitskämpfe führt, geht es aber um viel mehr als den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Sie hält uns von der anderen Seite der Kasse den Spiegel vor. Sie weiß sehr gut, wie man mit den Macken der Kunden fertig wird und auch mit denen des Managements. Ein Problem gebe es nur, wenn sich das Management auf die Seite von unverschämten Kunden stelle. So kommen wir schließlich zu großen offenen Fragen: Welche Werte halten die Dienstleistungsgesellschaft zusammen? Was passiert mit den Innenstädten, wenn die Kaufhäuser sterben?

In Fernsehtalkshows kommen kaum einfache Beschäftigte zu Wort
Die Debatte um «systemrelevante» Berufe in der Coronakrise erschien uns als Chance, in systemrelevant.tv über die gemeinsamen Erfahrungen in Berufen zu sprechen, die nach Bullshitjob-Logik umso schlechter bezahlt werden, je gesellschaftlich relevanter sie sind. Unser Ziel: Weder Daumenhoch-Imagefilme noch politische Appelle, die sich abnutzen.
Wir haben vielmehr begonnen, einen hör- und sehbaren Podcast zu entwickeln, in dem man Menschen kennenlernt, die durch ihren Mut, ihren Stolz und ihre Integrität zu Vorbildern geworden sind, zu Offline-Influencern. Nicht nur in Talkshows kommen kaum einfache Beschäftigte zu Wort, auch bei gewerkschaftlichen Kampagnen wird die Kamera oft nur auf die Sekretäre gehalten, und es bleibt offen, mit welchen Motiven die Menschen an der Basis sich auf das Risiko von Arbeitskämpfen einlassen und welche Hoffnungen sie antreiben. Genau über diese zum Teil auch sehr intimen Fragen möchten wir sprechen.

Es geht um Tod und Leben
Aggressive Hamsterkäufe, Lkw-Ladungen mit Toilettenpapier und Corona-Ausbruch im Seniorenheim – unsere Gäste brachten von Anfang an Corona-Geschichten mit. Allen liegt aber am Herzen, über tieferliegende gesellschaftliche Missstände zu diskutieren. So bringt es der Berliner Altenbetreuer Stephan auf den Punkt: «Der Tod im Seniorenheim spielt jetzt in der öffentlichen Wahrnehmung eine größere Rolle, aber leider nicht das Leben! Corona wird irgendwann vorbei sein, aber die Art und Weise, wie Menschen in einem Seniorenheim leben müssen, tagein tagaus, die ist wirklich skandalös. Ich halte das für den Sündenfall unserer hochentwickelten, reichen Gesellschaft.»
Im 40minütigen Interview beschreibt er eindrücklich am Beispiel seines eigenen Arbeitsplatzes, wie der «Kapitalismus in weiß» funktioniert. Indem Stellen unbesetzt bleiben oder mit nicht examinierten, billigeren Pflegekräften besetzt werden, steigt der Profit der Heimbetreiber. Selbst in kleineren Heimen könne sich so der Chef mehrere Sportwagen aus Krankenkassenbeiträgen finanzieren.

Die Arbeit nicht zu schaffen macht krank
«Blutige Gewinne» sind das aus Stephans Sicht, und gerade weil die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit lieben, macht es sie krank, die alten Menschen nicht richtig pflegen zu können. Ein paar von ihnen melden sich in den 70 Kommentaren unterm Interviewclip auf Facebook zu Wort: «Erlebe jeden Tag, dass unsere Bewohner nur mit dem Notwendigsten gerade so versorgt werden! Zuwendung ausgeschlossen! Und dann heißt es noch, es gibt noch schlechtere Heime, von Personalverschrottung ganz zu schweigen.»
Aber auch Angehörigen von Pfegebedürftigen geht das Thema nahe: «Ich kann nur von meiner Mutter erzählen, die nur sechs Wochen in einem Heim gelebt hat. Für mich waren diese sechs Wochen mit die schlimmsten in meinem Leben, meine Mutter wurde so erniedrigt und beschimpft.» Wie auch im Fall der Verkäuferin Sabine, deren Facebookclip in kurzer Zeit über 45000 Personen erreichte und eine emotionale Kommentarschlacht über dreiste Kunden entfachte, zeigt sich hier, dass die Debatte um Arbeitsbedingungen im Dienstleistungsbereich Fahrt aufnehmen und eine breite Öffentlichkeit erreichen kann, wenn sie auf die Perspektive der Dienstleistungsempfänger reagiert.

Vom Berufsstolz zum ­gemeinsamen Interesse
Auf die Frage, warum sie sich für ihren Beruf entschieden haben, lautet die Antwort der Interviewten: Weil er Spaß macht oder zumindest stolz, da die Arbeit als gesellschaftlich wertvoll, als «systemrelevant» wahrgenommen wird.
Wie gelangt man aber vom Bewusstsein der Relevanz des eigenen Berufs zum Klassenbewusstsein, zur Einsicht in gemeinsame, berufsspartenübergreifende Interessen? Wenn Facebook-Seiten im Stundentakt Pflege-Memes posten und sich über Merchandise in Form von T-Shirts mit aufgedruckten Sprüchen wie «So gut kann nur ein Pfleger aussehen» finanzieren, wäre es ein Fehlschluss zu meinen, im gleichzeitigen Bedienen verschiedener Berufsgruppen ließe sich das zersplitterte Berufsspartenbewusstsein ohne weiteres zu einem neuen Klassenbewusstsein zusammenführen.
Trotz der Wiederentdeckung der Klassenfrage in den deutschen Feuilletons bleibt es deswegen fraglich, ob sich mit «Klasse» Medienformate für ein Massenpublikum machen lassen. Die Reaktionen auf die ersten Interviews von systemrelevant.tv zeigen aber schon jetzt: Es besteht großer Redebedarf zum Thema Arbeit und wie sie in all ihren Facetten unser Leben prägt. Um das System, das uns die Arbeit schwer macht, zu hinterfragen, müssen wir uns der Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.

* Clemens Melzer hat zusammen mit Freunden, die wie er aus dem Medienbereich kommen und gewerkschaftlich aktiv sind, im März 2020 den YouTube-Kanal systemrelevant.tv gestartet, um mit ArbeiterInnen ausführliche Gespräche über die Arbeit und das Leben zu führen. In den Folgen 1–10 erzählen u.a. ein Busfahrer, eine Krankenflegerin, eine Sexarbeiterin, eine Kassiererin und ein Kellner aus ihrem Alltag.

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