Trump ist noch längst nicht Geschichte
von Helmut Dahmer, Wien
Seit Jahrzehnten warnen linke Soziologen und Politiker in und außerhalb der USA vor einem spezifisch amerikanischen «Faschismus». Seit dem 6.Januar 2021 wissen wir, wie der aussieht.
Als es am 6.Januar zum einen um die Stichwahlen in Georgia und damit um die Mehrheit im künftigen Senat ging, zum andern um die «Zertifizierung» der Wahlmännerstimmen, also um die Feststellung der Mehrheits-Minderheits-Verhältnisse bei der Präsidentschaftswahl vom November 2020, mobilisierte er seine Anhänger, um zu verhindern, dass Vizepräsident Pence pflichtgemäß den Sieg Bidens verkünden würde. Vom Weißen Haus aus dirigierte er einen Protestmarsch aufs Capitol, an dem Zehntausende verängstigt-begeisterte Trump-Gefolgsleute teilnahmen. Ein Stoßtrupp gewalttätiger Randalierer in abenteuerlicher Kostümierung und ausgerüstet mit Hieb-, Stich- und Schusswaffen, Kabelbindern und Rohrbomben überrannte rasch die kleine Gruppe von «unvorbereiteten» Polizisten, es fanden sich «Türöffner», die Menge drang in das Gebäude ein und begann eine Jagd auf Abgeordnete und Polizisten. Fünf Tote blieben auf der Strecke. Trump, der Anstifter, begutachtete derweil am Fernseher im Weißen Haus diesen Gang der Dinge und erklärte den Randalierern, er «liebe» sie, denn sie seien «ganz besondere» Leute. Spät, aber doch, drängten ihn seine verbliebenen Berater zu einer zwielichtigen Erklärung, in der er seine Legende von der «gestohlenen Wahl» bekräftigte, seine Anhänger aber zu einem friedlichen Rückzug aufforderte.
Im Parlament hing alles an einer Person, dem Vizepräsidenten Pence, der vier Jahre lang Trumps Komplize und Steigbügelhalter gewesen war und nun wie ein Rohr im Wind schwankte, zunächst das Zertifizierungsverfahren unterbrach, dann aber, nachdem die evakuierten Abgeordneten sich wieder einfanden (und zwei trumpistische Abgeordnete ihre Einsprüche zurückzogen), die Formalie zu Ende brachte und nun in Trumps Augen nur noch ein «Weichei» und «Verräter» war. In diesen Nachtstunden entschied sich für diesmal das Schicksal der US-Demokratie.
Das sei all denen eine Lehre, die auf die vermeintliche Stabilität der «Institutionen» setzen. Verfassungsfragen sind, wie Ferdinand Lassalle wusste, Machtfragen, und was aus den demokratischen Institutionen wird, hängt von den Menschen ab, die sie verteidigen, und von dem Kräfteverhältnis der Klassen, für die sie stehen. Hätte die Besetzung des Capitols angedauert, Pence das laufende Verfahren, statt es fortzusetzen, abgebrochen, wäre ein Interregnum entstanden, in das der wartende Trump (mit oder ohne Unterstützung von Pence) vorgestoßen wäre, um (mit Nationalgarde und Armee) die «Ordnung» «wiederherzustellen», die Wahl zu annullieren und «einfach» weiterzuregieren.
Als aber die wirklichen Machthaber sahen, dass der Abenteurer im Weißen Haus gescheitert war und nur eine Horde von Randalierern, nicht aber Armee und Nationalgarde einsetzen konnte, um sich an der Macht zu halten, ließen sie ihn fallen wie eine heiße Kartoffel – ja, diejenigen von ihnen, denen die bedeutendsten Informationsapparate gehören (Pressekonzerne, Fernsehsender, soziale Medien), «zogen nun einfach den Stecker», sodass Trump seine mehr als 100 Millionen Follower plötzlich nicht mehr mit den gewohnten Anschuldigungen, kontrafaktischen Behauptungen und Gewaltaufrufen erreichen und bei der Stange halten konnte. Niemand hat es bisher gewagt, Trump wegen «Hochverrats» anzuklagen, und so hat er gute Chancen, auch diesmal davonzukommen, seine Gefolgschaft zu mehren und zu organisieren und in vier Jahren ein Comeback zu starten.
Was aber folgt für die Opposition gegen Trump aus dessen vierjähriger Präsidentschaft und daraus, dass er noch immer den Rückhalt von 75 Millionen Wählern hat? Die Linke ist in den USA traditionell schwach und, wie in vielen Ländern, auf kleine agitatorisch und propagandistisch tätige Gruppen beschränkt. Deren Überlebenschance besteht darin, Verbündete (auf dem linken Flügel der «Demokraten», der Gewerkschaften, in der Studentenschaft, der Frauen- und Minderheitenbewegung, der Black-Life-Matters-Proteste, bei den Hispano-Amerikanern und bei der Fridays-for-Future-Jugend) zu werben, die es ihnen ermöglichen, eine dritte, sozialistische Partei zu formieren.
In allen als «demokratisch» bezeichneten Staaten – es werden zur Zeit weltweit immer weniger – bilden die «demokratischen» Strukturen nur eine Insel inmitten vordemokratischer Wirtschafts- und Lebensverhältnisse, die jederzeit in Gefahr steht, durch das vordemokratische Meer, das sie umgibt, wieder verschlungen zu werden, sich also in ein mehr oder weniger «autoritäres» Regime umzuwandeln. Tatsächlich beruht der Erfolg der sogenannten «populistischen» Demagogen und Parteien und die Faszination, die von faschistischen, «evangelikalen» oder «islamistischen» Sekten ausgeht, darauf, dass die Entwicklung der höchst entwickelten Gesellschaften in steigendem Maße auf «Eindimensionalität» (Herbert Marcuse, 1964) hinausläuft. Wo plausible Alternativen nicht mehr gedacht, geschweige denn in die öffentliche Diskussion eingeführt werden können, füllen skrupellose Demagogen das Vakuum mit globalen Pseudoerklärungen und phantastischen Heilsversprechen. Ihnen ein plausibles, alternatives Minimalprogramm entgegenzusetzen, scheint mir das Gebot der Stunde, in den USA ebenso wie in der Bundesrepublik.
Es ist nur ein bescheidener Fortschritt, Trump durch Biden zu ersetzen. Und es ist sinnvoll, die Rechte des Parlaments gegenüber der Exekutive (Präsident und Regierung) zu stärken und das ungleiche US-Wahlrecht zu reformieren. Doch die wenigen demokratischen Republiken sind international nur zu retten, wenn wir ein radikales Reformprogramm entwickeln, das für die Mehrheit verständlich ist und sie so weit überzeugt, dass sie aus ihrer Apathie ausbricht, nicht länger klagt, dass niemand sie (er)hört, sondern selbst politisch aktiv wird, um die Realisierung von jedem einleuchtenden, längst überfälligen Reformen in absehbarer Zeit politisch durchzusetzen. Ein solches Programm muss den Bogen schlagen von der Armutsbekämpfung zum Recht auf Arbeit, von der Vier-Tage-Woche zur Garantie eines akzeptablen Lebensstandards und des Rechts auf öffentlich finanzierte Wohnung, Gesundheit und Bildung für alle. Dies Programm zielt auf die Abschaffung von Privilegierung und Diskriminierung, es ist ein egalitäres, ein antikapitalistisches; es richtet sich gegen die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, der Quelle aller politischen Macht.
2021 gilt wie 1931: Gelingt es nicht, die parlamentarische zu einer Wirtschaftsdemokratie zu erweitern und der stets nur verwalteten und «repräsentierten» Bevölkerung einen Weg zur Selbstverwaltung zu öffnen, dann werden die (neuen) Faschisten die «Abgehängten», «Zurückgesetzten», «Verunsicherten» und «Beleidigten» abermals zu einer Gefolgschaft bündeln, die Demokratie und Menschenrechten den Garaus macht.
Zu allererst aber müssen die getarnten Nazis von heute öffentlich «Nazis» genannt und als solche bekämpft werden. Rekrutierung und Ausbildung von Soldaten und Polizisten müssen von Grund auf verändert werden, um sie tauglich zu machen, die parlamentarischen Institutionen zu verteidigen, statt sich in Kollaborateure von deren Destruktion zu verwandeln. Die bewaffneten Banden im Untergrund müssen entwaffnet, und die gewaltträchtige Ideologie des rechten «Flügels» der AfD, der «Identitären» und ähnlicher Gruppierungen muss Tag für Tag öffentlich analysiert und attackiert werden.
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