Ein Virus infiziert die Arbeitswelt
von Michael Heldt
Eine schleichende Entwicklung wird, wie so vieles momentan, um ein Vielfaches beschleunigt: Homeoffice. Eine sich ausbreitende Besonderheit wird betriebliche Normalität und ein weiterer Meilenstein für die Aus- und Verlagerung von Arbeit – nicht in der Produktion oder Logistik, sondern diesmal im Büro und unter qualifizierten Fachkräften.
Etwa 55 Prozent der Berufstätigen halten ihre Tätigkeit für grundsätzlich geeignet, im Homeoffice erledigt zu werden. 2019 haben 12,9 Prozent manchmal von zu Hause gearbeitet. Im April 2020 waren es plötzlich 27 Prozent und im Januar 2021 wieder 24 Prozent. 2019 erschienen Umfragen, in denen 64 Prozent der Befragten einen gesetzlichen Anspruch auf Homeoffice befürworteten. Heute würden sich manche freuen, wenn sie das Recht durchsetzen könnten, sich zu verweigern. Für die allermeisten ist es aber das kleinere Übel und die einzige Lösung, den ganzen Schlamassel zu bewältigen.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat es nicht so mit dem Arbeitsrecht. Die wenigen Errungenschaften, die aus dem Handgemenge in den Betrieben in die Rechtsprechung einfließen konnten, wurden ignoriert. Das gehört zum Job eines SPD-Ministers für Arbeit und Soziales. Und in Zeiten der Pandemie, in der Unternehmen durch maximale Flexibilisierung und Milliardenhilfsprogrammen unterstützt werden, muss sicher sein, wer dafür zahlt.
Was ist Homeoffice?
«Beim Homeoffice ist die (teilweise) Erbringung der Arbeitsleistung an einem fest eingerichteten Arbeitsplatz außerhalb des Betriebs, typischerweise ‹in den eigenen vier Wänden›, gegeben.»
Daraus ergeben sich zwei Dinge: Die Kolleg:innen sind nicht frei in der Wahl des Arbeitsorts, und der Arbeitsplatz soll den gleichen Anforderungen genügen wie ein Büroarbeitsplatz.
Was ist dann mobiles Arbeiten?
Für mobiles Arbeiten stellt Chef «nur» geeignete mobile Endgeräte bereit – mehr nicht, und manchmal nicht mal das. Die Kolleg:innen müssen erreichbar sein, der Arbeitsort ist ihnen – und den betrieblichen Erfordernissen, überlassen. Maximal flexibel.
Warum so pingelig?
Die meisten, die heute «im Homeoffice» arbeiten, gehören bei weitem nicht zu denen, die des Berufs wegen oft unterwegs sind. Vor der Pandemie waren es oftmals Alleinerziehende, Familien, in denen alle Erwachsenen lohnabhängig beschäftigt sind, oder die Verwandte zu Hause pflegen. Es waren nicht, wie vielleicht zu vermuten, die Krawattenträger, die im ICE oder am Flughafen wichtigtuend ins Smartphone krakeelen.
Diese entgrenzende Arbeitsrealität wird zum Vorbild. Irgendwie sind wir ja alle Chef. Die Verantwortung für die Einrichtung des Arbeitsplatzes wird in Gänze auf die Kolleg:innen abgewälzt, das meist damit einher, dass die Kontrolle der Arbeitszeit gleich mit ausgelagert wird.
Die Arbeiterbewegung kann von solchen Entwicklungen nur überfordert werden. Für den Moment. Was aber weniger mit rechtlichen und tariflichen Rahmenbedingungen, sondern mit fehlender Wehrhaftigkeit im Betrieb zu tun hat. Die Rechtsgrundlagen sind, wie so oft, von Arbeitsrechtler:innen wie Herta Däubler-Gmelin ausgearbeitet worden und wollen durchgekämpft werden. Das ist und kann in Zeiten von Auslagerungen, Abspaltungen und betrieblichen Besonderheiten nur gelingen, wenn betriebliche Kerne um diese Durchsetzung ringen.
Die Papier- und Rechtslage ist also gar nicht übel. Darauf aufbauend haben viele Betriebsratsgremien in den letzten Jahren Grundsätzliches in Betriebsvereinbarungen durchsetzen können, schon lange gibt es brauchbare Tarifabschlüsse sogar für «mobiles Arbeiten» – die als Orientierungspunkte gegen ausufernde Unternehmerwillkür dienen können.
Was wir zu tun haben? Aufklären, diskutieren, Erfahrungen austauschen. Und uns und die KollegInnen auf eine Phase einstellen, die Weichen stellt: Gelingt es unseren Gegnern die Vielzahl an Profit sichernden und steigenden Maßnahmen zum «neuen Normal» zu machen? Oder sind wir es, die Grenzen ziehen?
Was nicht aus den Betrieben zu beantworten ist: die Möglichkeiten, durch beschleunigte Digitalisierung immer weitere Arbeitsschritte auszulagern – nicht nur ins Homeoffice, sondern an Freelancer und ach so freie Cloudworker. Aus der Froschperspektive ist es ein Kampf gegen die Einführung des Webstuhls: Schleichend, aber unaufhaltsam werden der Gewerkschaftsbewegung ständig neue Aufgaben gestellt, die dazu zwingen, mehrsprachiger, flexibler und «von der Basis» her zu denken.
Zukunft der Arbeit
Aus einer ökosozialistischen Perspektive sind die Vorteile von Homeoffice nicht von der Hand zu weisen, sogar für die Kampfkraft der Arbeiter:innen birgt es Potenziale – der lange, nervenraubende Weg zur Arbeit entfällt, mehr Zeit und Kraft für politische Aktivität. Aber ob das die fehlenden Gespräche in den Fluren und Hallen ersetzen kann…
1 Kommentar
Zwei Jahrhunderte retour!
Ob die Heimarbeit, neudeutsch Homeoffice, die Kriterien des Heimarbeitgesetzes (HAG) oder des Mietvertragrechtes erfüllt, die Kosten des Wohnverhältnisses (Wohnunggröße, Wohnklima (Heizung) sowie der Technologie (Telekommunikationanschluss, Flatrate) berücksichtigt oder den Datenschutz garantiert bezweifle ich.
Zudem wälzt der Arbeitgeber wahrscheinlich die Investitionkosten für die betriebliche Infrastruktur (Geschäftraum, Betrieb-/Geschäftausstattung) zunehmend auf den/die ArbeitnehmerIn ab.
Außerdem kontrolliert der Arbeitgeber angesichts des Protokolls des Betriebsystems der Informationtechnik die Arbeitaktivitäten des/der ArbeitnehmersIn bis in die Privatsphäre total; der Termindruck steigt, die Familie leidet.
Viel Spaß bei der Arbeiteinteilung des Tages oder der Woche? Eine Viertage-Woche mit 30 Arbeitstunden bei vollem Lohnausgleich rückt in weite Ferne, um seine Lebenhaltungkosten gegenwärtig oder zukünftig im Ruhezustand zu verdienen, nicht wahr?
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