Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2021

Mit der EU und den USA will Deutschland wieder Weltmacht werden
von Jürgen Wagner*

Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt», rechtfertigte im Frühjahr 1999 Peter Struck, Verteidigungsminister der ersten «rot-grünen» Bundesregierung die Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan. Heute ergänzt seine Nachfolgerin im Amt, Kramp-Karrenbauer: Und im Indo-Pazifik!, also in den Meeren Südostasiens. In der EU ist darüber ein Streit entbrannt: Mit den USA oder gegen sie?

Vor ziemlich genau einem Jahr hielt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ihre erste Grundsatzrede, in der sie den Befund zunehmender Großmachtkonflikte mit der Forderung verband, Deutschland müsse sich künftig stärker militärisch engagieren:
«Wir erleben derzeit eine Rückkehr der Konkurrenz großer Mächte um Einflusssphären und Vorherrschaft … Ein Land unserer Größe und unserer wirtschaftlichen und technologischen Kraft, ein Land unserer geostrategischen Lage und mit unseren globalen Interessen, das kann nicht einfach nur am Rande stehen und zuschauen … Dazu gehört letztendlich auch die Bereitschaft, gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern das Spektrum militärischer Mittel wenn nötig auszuschöpfen.»
Am 17.November 2020 folgte nun eine zweite Grundsatzrede, in der vor allem die Frage angesprochen wurde, gegen wen bzw. mit wem sich Deutschland und Europa in dieser neuen Großmachtkonkurrenz positionieren müssten. Die Antwort hätte kaum deutlicher ausfallen können: mit den USA! Strategische Autonomie: Absage! Als strategische Autonomie wird gemeinhin die Fähigkeit bezeichnet, außen- und militärpolitisch weitgehend unabhängig eigene Interessen durchsetzen zu können.
Das Konzept ist einigermaßen umstritten, weil es von Anfang an primär auf eine weitgehende militärpolitische Abkopplung von den USA hinausläuft. In der ausführlichen Untersuchung «Strategische Autonomie Europas» der Stiftung Wissenschaft und Politik heißt es dazu:
«Strategische Autonomie wird hier als die Fähigkeit definiert, eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sowie [Verfügung über] die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen … [Für] das Streben nach Selbstbehauptung und Selbstbestimmung der (West-)Europäer steht nicht zuletzt das Vorhaben einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) … Deren Scheitern 1954 hatte unmittelbar zur Folge, dass die EWG-Staaten im wesentlichen ihre Sicherheits-und Verteidigungspolitik an die schon 1949 gegründete NATO auslagerten und damit die atlantische Unterordnung der EG/EU auf viele Jahrzehnte festschrieben.»

Ein alter Streit
Dennoch legte die «Strategische Autonomie» in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Karriere in Brüssel hin und gilt heute nicht zuletzt dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron als neues großes Leitbild, an dem alle sicherheitspolitischen Überlegungen auszurichten seien.
Auch Ratspräsident Charles Michel kann sich für das Konzept begeistern und gab unlängst zu Protokoll: «Wir senden eine Botschaft nicht nur an unsere Bürger, sondern auch an den Rest der Welt: Europa ist eine Weltmacht. Wir sind fest entschlossen, unsere Interessen zu verteidigen … Europäische strategische Autonomie ist nicht nur ein Wort. Die strategische Unabhängigkeit Europas ist unser neues gemeinsames Projekt für dieses Jahrhundert. Das ist in unser aller Interesse. 70 Jahre nach den Gründervätern ist die strategische Autonomie Europas das Ziel Nummer eins unserer Generation. Für Europa ist dies der eigentliche Beginn des 21.Jahrhunderts.»
Die Debatte wurde vor einiger Zeit auch vom EU-eigenen Institute for Security Studies (EUISS) aufgegriffen: Um ernsthaft von «strategischer Autonomie» sprechen zu können, bedürfe es ungleich größerer militärischer Kapazitäten als derzeit vorhanden. Dies sei nur möglich, wenn perspektivisch sogar mehr als die schwer umstrittenen zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär ausgegeben würden. Anfang November 2020 bezog Kramp-Karrenbauer Stellung gegen das Konzept, was Macron zu einer scharfen Replik veranlasste:
«Wenn man es ohne Umschweife ausdrücken möchte, stellt sich folgende Frage: Wird der Regierungswechsel in den USA dazu führen, dass die EU-Länder diese Ziele weniger konsequent verfolgen? Ich teile beispielsweise ganz und gar nicht die von der deutschen Verteidigungsministerin in einem Gastbeitrag für Politico geäußerte Position. Ich halte das für eine Fehlinterpretation der Geschichte. Zum Glück verfolgt die deutsche Kanzlerin nicht diese Linie, wenn ich es richtig verstanden habe. Aber die Vereinigten Staaten werden uns nur als Verbündete akzeptieren, wenn wir uns selber ernst nehmen, und wenn wir in unserer eigenen Verteidigung souverän sind. Ich denke daher, dass der Regierungswechsel in den USA vielmehr eine Chance ist, in völlig beruhigter und entspannter Weise weiter an dem unter Verbündeten notwendigen gegenseitigen Verständnis dafür zu arbeiten, dass wir den Aufbau unserer eigenen Autonomie fortsetzen, genau wie es die Vereinigten Staaten und China jeweils für sich auch tun.»
Daraufhin legte die deutsche Verteidigungsministerin in ihrer Grundsatzrede vom 17.November noch einmal deutlich nach. Sie machte keinen Hehl daraus, dass es sich bei der «Strategischen Autonomie» aus ihrer Sicht um einen Rohrkrepierer handelt:
«Das renommierte Londoner RUSI-Institut schätzt, dass die USA derzeit 75 Prozent aller NATO-Fähigkeiten stellen … All dies zu kompensieren, würde nach seriösen Schätzungen Jahrzehnte dauern und unsere heutigen Verteidigungshaushalte mehr als bescheiden daherkommen lassen … Die Idee einer strategischen Autonomie Europas geht zu weit, wenn sie die Illusion nährt, wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten … Die Kosten einer strategischen Autonomie im Sinne einer vollkommenen Loslösung von den USA würden im übrigen ungleich höher ausfallen als die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, zu denen wir uns selbst im atlantischen Bündnis verpflichtet haben.»

Flagge zeigen!
Anstatt auf eine – ohnehin aussichtslose – militärische Abkopplung von den USA zu setzen, gelte es laut Kramp-Karrenbauer vielmehr, dem schwächelnden transatlantischen Partner künftig stärker militärisch unter die Arme zu greifen. Hier sieht sie das zentrale Angebot an die ins Amt gekommene Regierung Biden und die Grundlage für einen «transatlantischen New Deal»:
«Wir wollen, dass Europa für die USA starker Partner auf Augenhöhe ist und kein hilfsbedürftiger Schützling. Der neue amerikanische Präsident Joe Biden muss sehen und spüren, dass wir genau das anstreben. Ich halte es für wichtig, dass wir Europäer der kommenden Biden-Administration daher ein gemeinsames Angebot, einen New Deal, vorlegen. Für mich sind aus der Sicht der deutschen Verteidigungspolitik drei Eckpunkte dabei besonders wichtig:
– dass wir unsere Fähigkeiten in der Verteidigung ausbauen und dafür die Verteidigungshaushalte auch in der Corona-Zeit zuverlässig stärken;
– dass Deutschland sich zu seiner Rolle in der nuklearen Teilhabe in der NATO bekennt;
– dass beim Thema China dort, wo es mit unseren Interessen vereinbar ist, eine gemeinsame Agenda Europas mit den USA möglich und gewollt ist.»
Besonders die Konfrontation mit China war Gegenstand Grundsatzreden von AKK. Schon vor einem Jahr hatte sie in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer größeren militärischen Präsenz im Indopazifik betont. Konsequenterweise war daher im Frühjahr 2020 auch geplant, die Fregatte Hamburg in die Region zu entsenden – bis die Coronakrise diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung machte.
Im September 2020 verabschiedete die Bundesregierung erstmals eine Indopazifik-Leitlinie, in der explizit eine größere militärische Präsenz in der Region angekündigt wird.
Auch in ihrer zweiten Grundsatzrede griff Kramp-Karrenbauer die Konfrontation mit China auf, wollte das Bestreben nach einer größeren deutschen Militärpräsenz aber explizit im Verbund und nicht gegen die USA verstanden wissen:
«Die Herausforderungen sind klar erkennbar, der internationale Systemwettbewerb auch. Einige Staaten stellen dem westlichen Modell der offenen Gesellschaft, der Demokratie und des Rechtsstaats ein anderes Modell entgegen, das mit unseren Werten in keiner Weise vereinbar ist … Ich freue mich, dass die Bundesregierung umfassende Leitlinien zum Indopazifik beschlossen hat, die auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfassen. Die strategische Bedeutung der Region wird damit voll anerkannt … Deutschland wird präsenter, etwa durch mehr Verbindungsoffiziere und im kommenden Jahr, so Corona das zulässt, durch ein Schiff der deutschen Marine. Wir werden Flagge zeigen für unsere Werte, Interessen und Partner.»

Mehr Geld für Rüstung
Letztlich will aber auch Kramp-Karrenbauer über verstärkte Rüstungsanstrengungen eine Aufwertung im Bündnis erreichen, allzu groß sind die Differenzen mit Macron also nicht.
Auch Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik ist der Auffassung, dass «die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland in bezug auf die europäische strategische Autonomie nicht so groß sind … Paris und Berlin sind sich weitgehend einig über den grundlegenden Wandel der Weltordnung und über die Notwendigkeit, dass Europa mehr tun und gemeinsam handeln muss.»
Insofern war Kramp-Karrenbauers Ankündigung – oder besser: Drohung – bemerkenswert, die Finanzlage könne es erfordern, diverse Rüstungsgroßprojekte zu kassieren: «Das führt mich zu einem zentralen Punkt: Ich werde einer Finanzierung von Großprojekten zulasten der Grundausstattung und der Mittel des täglichen Betriebs nicht zustimmen … Neue Großprojekte, so attraktiv sie scheinen und so schön es wäre, die damit versprochenen Fähigkeiten zu haben, können nur dann realisiert werden, wenn dafür in der Finanzplanung zusätzliches Geld bereitgestellt wird – oder wenn andere Großprojekte dafür nicht realisiert werden.» Rüstungsvorhaben mit «mittelfristiger Finanzperspektive» seien der «Eurofighter», der «Hubschrauber NH90» und die «Eurodrohne».
Bemerkenswert abwesend in der Aufzählung sind die beiden Kernprojekte des europäischen Autonomieprojekts: das geplante deutsch-französische Kampfflugzeug (FCAS) und der geplante Kampfpanzer (MGCS) – und das, obwohl auch für diese Projekte bereits erhebliche Gelder freigemacht wurden. Deutschland hat an beiden Großvorhaben ein großes Interesse, zumal deutsche Konzerne hieran massiv beteiligt sind. Deshalb liegt der Verdacht nahe, dass es mit dieser Warnung vor allem darum gehen sollte, den Verteidigungshaushalt gegen pandemiebedingte Kürzungen zu immunisieren.
Die Botschaft: Wer die Europäische Union – mit Deutschland im Zentrum – ernsthaft als einen militärischen Akteur allerersten Ranges positionieren möchte, der soll gefälligst auch die erforderlichen Milliardenbeträge bereitstellen – Corona hin oder her.

*Der Autor ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.

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