Zwei Bücher zum Begriff werden heftig diskutiert
von Gisela Notz
Francis Seeck, Brigitte Theißl (Hrsg.): Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen. Münster: Unrast, 2020. 280 S., 16 Euro
Riccardo Altieri, Bernd Hüttner (Hrsg.). Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien. Marburg: BdWi-Verlag, 2020. 217 S., 14 Euro
Es wird wieder über Klasse gesprochen. Fancis Seeck und Brigitte Theißl haben mit «Solidarisch gegen Klassismus» einen Sammelband mit 26 Texten vorgelegt, der über theoretische Diskussionen hinausreicht und auch aktivistische und persönliche Erfahrungen und antiklassistische Interventionen in die Debatte wirft. Ähnlich enthält auch der zweite Band, um den es hier ebenfalls gehen soll, «Klassismus und Wissenschaft» von Riccardo Altiere und Bernd Hüttner, 16 Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien.
Da er in der Reihe «Hochschule» des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erschienen ist, wundert es nicht, dass er vor allem Erfahrungen junger Menschen an den Universitäten sammelt, von denen fast alle bereits eine höhere Schule besuchen konnten und es bis zum Abitur und darüberhinaus an die Hochschulen geschafft haben. Das ist bei der Artikelsammlung von Francis Seeck und Brigitte Theißl nicht der Fall. Dort berichten auch Aktivist:innen, die ihre Klasse vielleicht gar nicht verlassen werden.
Klassismus gibt es also auch außerhalb der Unis und er hat eine lange Tradition. Klassismus ist keine Kunstepoche, sondern «beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit» und «richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel gegen einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Manschen oder Arbeiter:innenkinder». Ihnen wird vorgegaukelt, dass sie mithilfe herausragender persönlicher Leistungen in ein besseres Leben aufsteigen könnten. Das bezweifeln die Autor:innen. Und das bestätigen auch die Erfahrungsberichte.
Wer und wo
Seek und Theißl setzen auf die Arbeit im Kollektiv und lassen solidarische Gruppenzusammenhänge wie die Erwerbsloseninitiative BASTA, die solidarische Aktion Neukölln, Aktivistinnen aus der Wohnungslosenhilfe und aus anderen sozialen Bewegungen zu Wort kommen. Aktuell geht es auch um soziale Isolierung und den «Ausnahmezustand» aufgrund der Corona-Krise.
Die antiklassistischen Lösungsstrategien in dieser Aufsatzsammlung beziehen sich auf die Thematisierung von Klassismus in der sozialen Arbeit, in der außerschulischen Bildungsarbeit, im Journalismus, in der Sprache und in der Musik sowie auf solidarische Praktiken wie Selbstorganisation von Migrantinnen, (Prolo-)Lesben, Behinderten und Arbeiterkindern an den Hochschulen. Sie machen die Verwobenheit von verschiedenen Diskriminierungsformen deutlich. Die meisten Aktivist:innen setzen auf kollektive Interventionen.
Klassismus an Unis
Aufgewachsen in einkommensarmen Haushalten sind auch die meist jungen Menschen im Buch «Klassismus und Wissenschaft». Sie sind oft die ersten in der Familie, die an einer Universität studieren dürfen. Als «First Generation Students» werden sie bezeichnet – Studierende, die nicht aus Akademikerfamilien stammen. In den 1970er Jahren gab es davon viele, meist waren sie älter und hatten den höheren Schulabschluss in Abendkursen nachgeholt. Sie profitierten von der Studienreform. Für eine kurze Zeit galt es sogar als Auszeichnung, «über den zweiten Bildungsweg» studiert zu haben. Das war keine «volkstümelnde Idealisierung der unteren Klassen» (Bourdieu), sondern ein Beweis dafür, dass sich für Arbeiterkinder Möglichkeiten eröffnen, wenn sich das Bildungssystem ändert.
Doch die Bildungsreform ist auf halbem Wege steckengeblieben. Eine «sozial gerechte Bildungspolitik» ist heute in ebenso weiter Ferne, wie zu Kurt Eisners Zeiten, dem der an der Universität gelebte Klassismus genauso zuwider war, wie dem «armen Studenten» von heute, wie Frank Jacob schreibt. Die Zeit der 1970er Jahre ist vergessen, oft auch von denen, die davon profitierten, weil sie den Weg nach «ganz oben» entweder geschafft oder abgebrochen, aber nicht abgeschafft haben. Arbeiterkinder sind an den deutschen Universitäten noch immer eine Minderheit. Die im Buch zu Wort kommen, beklagen, dass dort Verhaltensweisen und Anpassungsstrategien verlangt werden, die ihnen fremd sind, sie verarbeiten das unterschiedlich: Die meisten haben Pierre Bourdieu, Didier Eribon, Christian Baron und bell hooks gelesen. Sie erleben den sozialen «Aufstieg» als Chance, vor allem, weil sie nun erst ihre klassistische Benachteiligung erkennen und artikulieren können. Andere erleben ihn als Bruch, verbunden mit hohen Kosten und schmerzhaften Erfahrungen, vor allem im Zusammenhang mit ihren Herkunftsfamilien. Manche Eltern sind aufgeschlossen, haben aber Angst davor, dass man vom Erlernten keinen «Brotberuf» erwarten kann. Finanzielle Beiträge zum Studium können die meisten nicht leisten. Keinen Bezug zu den Eltern mehr zu haben, ist in einer familistischen Gesellschaft wie der unsrigen von Schuldbewusstsein geprägt.
Der Umgang mit der Herkunft
Und doch scheint das «allein zurechtkommen» notwendig. Es gilt im doppelten Sinne: in bezug auf die Familie wie auch auf die Akademie. Das «kann zu Resignation führen oder zu Stolz auf das bisher Erreichte», wie Altieri und Hüttner zu recht analysieren. Es kann aber auch zur Verleugnung der eigenen Herkunft führen, wie auch ich es im Bekanntenkreis immer wieder vorfinde.
Gefallen hat mir daher der Hinweis, dass «prominente» Linke in der Geschichte ihre «bürgerliche» Herkunft oft verrieten und sich den Kämpfen der Arbeiterbewegung um Befreiung widmeten. Obwohl ich von der Verleugnung der Herkunft weder von der einen noch von der anderen Seite etwas halte, halte ich doch viel von denen, die sich mit den Unterdrückten solidarisieren, wenn es um den «Kampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeutenden, ebenfalls ohne Unterschied des Geschlechts» geht, wie Ottilie Baader es bei der Gründung der sozialistischen Fraueninternationale 1907 in Stuttgart formulierte. Das ist auch ein intersektionaler Ansatz!
Heute ist ein Arbeiterkind etwas anderes als zu Ottilie Baaders Zeiten. Nach wie vor ist es aber das Auseinanderklaffen zwischen arm und reich das die Gesellschaft spaltet. Was fehlt, sind Arbeiterbewegung und Klassenbewusstsein. Da bräuchte es neue Definitionen, neue Kommunikationsformen und neue Formen der Solidarität, die noch erfunden werden müssen. Schließlich geht es darum, den Zustand der Welt und damit auch der Universitäten zu ändern, damit die Welt zu einem Ort wird, in dem alle gut wohnen können. Beide Bücher können einen Beitrag dazu leisten.
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