Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2021

Die Massenmobilisierungen in Russland passen in keine westliche Schablone
von Karine Clément*

Die Gründe für die Massenproteste in Russland sind verschieden und gehen weit über Nawalnys Antikorruptionskampagne hinaus. Alle eint der Wille nach Veränderung, der Wunsch nach Respekt, nach einem Ende der persönlichen Bereicherung. In welche Richtung aber sollen Veränderungen gehen?

Sobald diese Frage gestellt wird, gehen die Meinungen auseinander. Im Moment aber gibt es eine Art nationale Einheit für die Wiedererlangung der persönlichen Würde und in einem gewissen Sinne der Souveränität der Bevölkerung.
Bei den Protesten fällt auf, dass neuerdings, im Gegensatz zum sonstigen, sehr gesetzestreuen Verhalten eine unerwartete Aggressivität aufscheint, vor allem bei willkürlichen Verhaftungen und gegenüber dem Vorgehen der Ordnungskräfte. Von diesen willkürlichen Verhaftungen gibt es bereits mehrere tausend im ganzen Land, das verstärkt die Wut und die Entschlossenheit.
Nawalny ist nicht der Anführer dieser Proteste, eher ihr Auslöser, und es ist weniger sein politisches Programm, dem die Leute ihre Unterstützung erweisen wollen, als sein persönliches Engagement als Mensch, der sein Leben riskiert hat um zu beweisen, dass Widerstand möglich ist.
Unter diesen Bedingungen ist es nicht möglich, den poltischen Charakter der Proteste zu bestimmen, es ist nicht zu sagen, ob die Stimmung sich mehr nach einer ultraliberalen, prowestlichen Seite neigt oder nach dem Verlangen einer gerechteren Verteilung des Reichtums und dem Kampf gegen die Oligarchie. Die Ablehnung «der Politik» geht so tief, die Desorientierung ist so groß, dass für die Mehrheit der russischen Bevölkerung keiner der im Westen gebräuchlichen Kategorien einen Sinn macht – weder rechts noch links, weder Konservatismus noch Fortschrittsgedanke, auch nicht Monarchie oder Anarchismus…
Die Proteste sind mutig, das ist eine Tatsache. Sie sind solidarisch und erfassen das ganze Land und alle Altersstufen.
Der Kreml seinerseits und sein politisches System erfährt die größte Krise seit Putins Amtsantritt – und Putin hatte schon Jelzins Regime vor dem Debakel gerettet. Die Quellen seiner Legitimität sind versiegt?: Patriotismus, Populismus, Putin der Retter – all das zieht nicht mehr. Den Oligarchen und denen, die von ihrem System profitieren, bleibt nur noch die nackte Repression.
Es ist möglich, dass das System zu­sammenbricht. Was kommt danach? Das ist eine offene Frage. Als Linke, die von der Aktualität der sozialen Frage überzeugt ist, hoffe ich, dass es der nicht gerade zahlreichen Linken in Russland gelingen möge, die Politik neu zu erfinden.

* Karine Clément arbeitet derzeit als Soziologin am Institut CNRS in Paris, weil der russische Geheimdienst ihr im vergangenen Jahr für die kommenden zehn Jahre den Aufenhalt in Russland verboten hat. Angeblich ist sie eine «Gefahr für den Staat». Zuvor hatte sie als Soziologin an verschiedenen Universitäten in St.Petersburg gearbeitet und war aktiv an verschiedenen Bürgerprotesten und Ge­werkschaftskämpfen beteiligt. Sie war Mitinitiatorin des «Instituts für kollektive Aktion». In der Zeit hat sie auch Nawalny kennengelernt.

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