Der Abbau der Gewerbeaufsicht geht auf Kosten der Beschäftigten
von Tom Adler*
«Schlanker Staat», «Privat vor Staat», «Senkung der Lohnnebenkosten» – dieser gemeinsame politische Nenner der Regierungspolitik von CDU und FDP bis Grünen und SPD entfaltet seit 25 Jahren sein destruktives Potenzial in der Gesellschaft. Und das nicht nur in den sozialen Sicherungssystemen und im Gesundheitswesen.
Auch die personelle Auszehrung öffentlicher Dienste, die Unternehmen zum Schutz der Arbeitenden beaufsichtigen und kontrollieren sollen, etwa beim betrieblichen Umweltschutz und beim Arbeitsschutz, war gewollte Strategie. So hat Baden-Württembergs CDU/FDP-Landesregierung im Jahr 2005 mit Hilfe einer «Verwaltungsreform» die Gewerbeaufsicht aus der Landeszuständigkeit herausgelöst und die künftige Zuständigkeit weitgehend den Kommunen und Landkreisen zugeschoben – nach bewährtem Muster, d.h. ohne die Kommunen mit den dafür notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen auszustatten. Insgesamt wurde jeder fünfte Kontrolleur der Gewerbeaufsicht gestrichen.
Der Schwund an Kontrollpersonal in der Gewerbeaufsicht wurde auf kommunaler Ebene nicht ausgeglichen, denn auch in den Gemeindeverwaltungen und -räten war der Abbau von Personal im öffentlichen Dienst herrschende Lehre. In Stuttgart führte eine vorgegebene «Effizienzrendite» von 20 Prozent zum Abbau von 31 Stellen im Gewerbeaufsichtsamt.
Der zaghafte Wiederaufbau von Personal in den letzten Jahren bleibt weit hinter dem zurück, was erforderlich ist und was die ILO-Konvention vorsieht: Sie fordert pro 10000 Beschäftigten eine Stelle bei der Gewerbeaufsicht, was in Stuttgart 40 Stellen entspräche. Die Fraktion DIE LINKE hat im Dezember letzten Jahres dementsprechend im «kleinen Stellenplan» eine Aufstockung um 29 Stellen beantragt, die Mehrheit des Gemeinderats wollte darüber aber erst bei den kommenden Beratungen zum Haushalt 2022/23 sprechen. Das lässt befürchten, dass dieser kleine Stellenaufbau dem erwartbaren Sparkurs für kommende kommunale Haushalte zum Opfer fallen wird.
«Zum Zeitpunkt unserer Prüfung lag der Personaleinsatz für die Aufsicht im Arbeitsschutz laut Gewerbeaufsicht bei rund sechs Stellen (ein Kontrolleur je 70000 Beschäftigte) … Der empfohlene Richtwert wird mit den neuen Stellen jedoch deutlich nicht erreicht», stellt selbst der Bericht der Verwaltung zur Gewerbeaufsicht am 26.2.2021 fest.
Die ständige Zuweisung neuer Aufgaben und die Überfrachtung der Arbeitsschutzkontrolleure mit Dienstleistungen für andere Behören und etwa den betrieblichen Umweltschutz führen dazu, dass sie zu 70 Prozent mit Aufgaben belastet sind, die nicht dem Arbeitsschutz im eigentlichen Sinne zuzuordnen sind. Für Betriebsbesuche vor Ort ausgebildete und befähigte Arbeitsschutz-Revisor:innen werden darüberhinaus nur noch durch Learning bei doing (durch Begleitung von ausgebildeten Revisor:innen) eingelernt – bis 2005 gab es eine systematisierte Fortbildung zum Revisor. Die Kontrolldichte auf Baustellen liegt so bei 1,28 Prozent – und nur die Hälfte davon entfällt auf Arbeits-und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz im eigentlichen Sinn, die andere Hälfte auf die Bearbeitung von Beschwerden von Nachbarn und Anliegern.
Hier muss Druck gemacht werden
Die Folge sind 25 Jahre fast aufsichtslose Party freier Unternehmer ohne «staatliche Gängelung» in 26000 Stuttgarter Gewerbebetrieben und auf 20000 Baustellen. Das hat dramatische Auswirkungen für Arbeiter:innen und Angestellte: Pro Jahr gibt es im Land über 100000 Arbeitsunfälle und 70 Tote auf Baustellen – prominent ragen dabei Großbaustellen wie die von Stuttgart21 heraus, wo ein Bauarbeiter erschlagen wurde und die Deutsche Bahn nach Kräften mithilft, Verantwortlichkeiten zu verschleiern.
Beim Ausbruch von Coronainfektionen in den Container-Massenunterkünften türkischer S21-Bauarbeiter in der ersten Welle im vergangenen Frühjahr ließ die zuständige Gewerbeaufsicht wissen, dass sie davon aus der Presse erfahren habe. Den türkischen Subunternehmer, der verängstigte Bauarbeiter, die an die Öffentlichkeit gegangen waren, massiv unter Druck setzte, ließ man gewähren.
Im Magazin Report sprach Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler Wolfgang Hien von «entsetzlich schlechten Arbeitsbedingungen für Millionen Lohnabhängiger», weil die personell ausgezehrte Gewerbeaufsicht nicht mehr in der Lage sei, «Gefährdungsbeurteilung vor Ort» zu überprüfen, Missstände zu unterbinden und «dies ganz oben auf die politische Tagesordnung zu setzen».
Das im Januar 2021 anlässlich der verheerenden Zustände in der Fleischindustrie verabschiedete «Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz» ist ein Anfang, der über zwei Jahrzehnte lang von allen Regierungskoalitionen hintertrieben worden war. Ab 2026 gilt die gesetzliche Vorgabe, dass im Laufe eines Kalenderjahres mindestens fünf Prozent der Betriebe kontrolliert werden müssen. Um in Stuttgart aber tatsächlich in 1285 Gewerbebetrieben Arbeitsschutzkontrollen durchführen zu können, muss noch massiv Personal aufgebaut werden.
*Der Autor sitzt für DIE LINKE im Gemeinderat Stuttgart.
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