Die Prioriäten umkehren!
von Christoph Wälz
Mit der heranrollenden Welle der B.1.1.7-Mutation droht die Öffnung der Schulen (Stand Mitte März) zu einem kurzen Intermezzo zu werden. Kinder und Familien sind die Opfer einer Corona-Politik, die auf möglichst wenig Einschränkungen für die Wirtschaft setzt.
«Um Bildung und Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, haben Öffnungen im Betreuungs- und Bildungsbereich … Priorität. Dieser Bereich soll daher als erster schrittweise wieder geöffnet werden», beschloss die Ministerpräsident:innen-Konferenz am 10.Februar. Zuvor war es bei dem Versuch einer verfrühten Schulöffnung zum 11.Januar in Berlin zu einem regelrechten «Aufstand der Schulen» gekommen. In nur zwei Tagen unterschrieben über 30000 Betroffene eine Petition gegen «Präsenzunterricht in Berlin, solange Covid-19 nicht unter Kontrolle ist», und zwangen die Landesregierung zum Einlenken.
Als die Schulen bundesweit am 22.Februar wieder anfingen zu öffnen, war Covid-19 noch lange nicht «unter Kontrolle». Aber die massive Stimmung gegen Schulöffnungen, die es noch Anfang Januar gab, war gekippt. Zwei Monate Distanzunterricht unter den nach wie vor schwierigen digitalen Lehr- und Lernbedingungen und die Zumutung für die Familien, Homeschooling und Lohnarbeit unter einen Hut kriegen zu müssen, zeigten Wirkung.
Öffnung in die dritte Welle hinein
Während die Ministerpräsident:innen am 3.März den Prozess der weiteren Öffnung der Schulen mit Beschlüssen zur Öffnung von Handel, Kultur und Gastronomie flankierten, baute sich die «dritte Welle» auf. Die «Notbremse», die in den Ländern bei einer Inzidenz von 100 Infektionen auf 100000 Einwohner:innen gezogen werden soll, führte dazu, dass bereits am 15.März die Schulen in einem Drittel der bayerischen Landkreise und kreisfreien Städte geschlossen blieben. Bundesweit mussten bereits im Februar mehrere Kitas und Schulen schließen, nachdem sich B.1.1.7 hier schnell verbreitet hatte.
Die Regierungen in Bund und Ländern haben versagt, sichere Bedingungen für die Bildung zu schaffen. Hätten ihnen wirklich die Zukunftschancen der Kinder am Herzen gelegen, dann hätten sie bereits im Frühjahr 2020 die Weichen dafür gestellt. Sie hätten die Anschaffung von 38 neuen Kampfflugzeugen vom Typ Eurofighter gestoppt. Die damit freigewordenen 5,5 Milliarden Euro hätten sie genutzt, um die Einhaltung des Abstandsgebots in Schulen durch kleinere Lerngruppen, mehr Räume und mehr Personal zu ermöglichen. Sie hätten flächendeckend Luftfilteranlagen angeschafft und die technischen Voraussetzungen für deren Nutzung in allen Klassenräumen geschaffen. Sie hätten Massentests für Schulen auf den Weg gebracht.
Es gibt jetzt keine billige Lösung
Stattdessen haben die Landesregierungen eine Umsetzung des Wechselunterrichts ab einer Inzidenz von 50 – wie vom RKI empfohlen – verweigert. Sie haben auf billige «Lösungen» wie Maskenpflicht und Lüften im 20-Minuten-Rhythmus gesetzt. Sie leugnen immer noch die hohe Wirksamkeit von Luftfiltern, die von einer Studie der Universität der Bundeswehr München im März 2021 zum wiederholten Male unterstrichen wurde.
Im Land Berlin werden jetzt zumindest einige Luftfilter pro Schule angeschafft, es soll regelmäßig Schnelltests der Beschäftigten und perspektivisch auch Selbsttests der Schüler:innen geben. Bundesweit werden Pädagog:innen zumindest in Kitas, Grundschulen und Sonderschulen bei Impfangeboten priorisiert. Diese Maßnahmen hinken jedoch der Dynamik der Pandemie hinterher und werden für einen sicheren Schulbetrieb in der dritten Welle nicht ausreichen. So nimmt denn auch Mitte März der Druck spürbar zu, wieder in den Distanzunterricht zu gehen bzw. Schulen gar nicht erst weiter zu öffnen.
Der Stufenplan von Bund und Ländern erweckt den Eindruck, die Pandemie könne irgendwo zwischen Inzidenzwerten von 50 und 100 kontrolliert werden. Wirklich sichere Bedingungen für den Schulbetrieb gibt es aber nur bei sehr niedrigen Inzidenzwerten. Die Initiative ZeroCovid fordert, Schulen erst bei Werten unter 10 wieder vorsichtig zu öffnen, um den Jojo-Effekt beim Bildungslockdown zu brechen.
Kinder wirklich zur Priorität machen
Wir stecken in einem Dilemma: Aus pädagogischer Perspektive ist es nicht vertretbar, Schulen länger als wenige Wochen geschlossen zu halten. Eine Öffnung unter Bedingungen, die zu einer rasanten Verbreitung von B.1.1.7 unter Schüler:innen, deren Familien und Pädagog:innen führen, ist jedoch ebenso fahrlässig. Das langsame Tempo der Impfungen sorgt für kein schnelles Durchatmen. Damit ist die Politik der Regierungen in Bund und Ländern für die Betroffenen eine immense Belastung ohne Aussicht auf ein Ende.
Bayerns Ministerpräsident Söder machte im Februar aus seiner Priorität keinen Hehl: «Die Schulen müssen offen sein, damit die Eltern ohne kurzfristige Einschränkungen arbeiten können.» Wir brauchen eine breite Bildungsbewegung für eine Umkehrung dieser Priorität. Alle nicht unbedingt lebensnotwendigen Betriebe müssen bei voller Entgeltfortzahlung für die Beschäftigten zeitweilig geschlossen werden. Kinder und Jugendliche haben lange genug mit Kontaktarmut und schlechteren Bildungschancen für das Primat der Kapitalverwertung bezahlt. Jetzt muss für wirklich sichere Bedingungen für deren Schulbesuch gesorgt werden.
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