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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2021

Die Initiative «Deutsche Wohnen enteignen» ist ein Modell für eine
soziale Kampagne

von Michael Prütz

Am 26.Februar begann die zweite Stufe des Volksbegehrens «Deutsche Wohnen & Co enteignen» in Berlin. Der Paukenschlag dazu ertönte jedoch schon eine Woche vor ihrem offiziellen Start: 40000 Plakate, verteilt über alle Postleitzahlgebiete Berlins, wurden von über tausend Aktiven verklebt.

Der Versuch, die Plakate zu beschlagnahmen und dem Staatsschutz zu übergeben, konnte die Kampagne nur kurz stören, insgesamt war sie ein voller Erfolg. In den sozialen Netzwerken fielen Vermieter in eine aggressive Schockstarre, im Berliner Abgeordnetenhaus mokierte sich die CDU über die Plakatkampagne und bezeichnete sie als illegal und verfassungsfeindlich. Die zahlreichen Reaktionen in der Presse zeigten darüber hinaus die Kampfkraft der Initiative.
In der Nacht vor dem Beginn der zweiten Stufe des Volksbegehrens kamen in einem eigens eingerichteten Online-Radiosender über vier Stunden lang Aktivist:innen sozialer Bewegungen und Gewerkschafter:innen zu Wort, zudem gab es eine Solidaritätsbotschaft von Ken Loach. Am 26.Februar, dem offiziellen Starttag und Sammelauftakt der Kampagne, folgten eine zentrale Kundgebung sowie dezentrale Kundgebungen in allen zwölf Berliner Bezirken. Am darauffolgenden Wochenende waren hunderte von Sammelteams im gesamten Berliner Stadtbild präsent. Der Kampagnenstart war geprägt von einer breiten Beteiligung sowohl der Aktiven als auch der Bündnispartner.

Wie ist die Kampagne aufgebaut?
Die Kampagne beherbergt zahlreiche inhaltliche Arbeitsgruppen, hier nur einige Beispiele: die Arbeitsgruppe Vergesellschaftung beschäftigt sich mit Rechtsfragen; die Aktions-AG ist verantwortlich für Materialerstellung; die Kultur-AG mobilisiert Künstler:innen für die Kampagne; die Öffentlichkeits-AG kümmert sich um Social Media, Presseerklärungen und -anfragen; die Starthilfe-AG, unterstützt Mieter:innen bei der Organisation. Zudem hat sich eine englischsprachige internationalistische Gruppe, «The Right to the City for All», gebildet – sie hat sich das Ziel gesetzt, Nichtdeutschsprachige zu informieren und zu mobilisieren.
Das Rückgrat der Kampagne bilden die Kiezteams – das sind Stadtteilgruppen, die es in allen zwölf Berliner Bezirken gibt und die sich manchmal noch nach Postleitzahlgebieten unterteilen. Sie organisieren und bestreiten die Unterschriftensammlung vor Ort, kümmern sich um neue Mitstreiter:innen, z.B. mit Workshops, und stehen in engem Kontakt mit lokalen Bündnispartnern. In den Kiezteams organisieren sich zur Zeit 1700 Menschen, manche zwei bis drei Stunden die Woche, andere in ihrer gesamten Freizeit. Die Kiezteams kommunizieren über Telegramgruppen; für Sammler:innen und Interessierte gibt es eine eigens entwickelte Sammel-App.
Aus den Kiezteams werden Delegierte in den sog. Sammelrat entsandt, in dem Probleme und Erfolge der Sammlung besprochen werden und Unterstützung für schwächere Bezirke organisiert wird.
Die Koordination der Gesamtkampagne liegt beim sog. Koordinierungskreis, der die alltäglichen Geschäfte der Kampagne führt und verantwortlich für reibungslose Abläufe ist. Im Koordinierungskreis sind Vertreter:innen aller Arbeitsgruppen und -strukturen vertreten.

Die Bündnispartner
Schon in der ersten Stufe des Volksbegehrens im Jahr 2019 unterstützten Ver.di, die GEW und der Mieterverein die Kampagne, seit August 2020 pflegt eine Arbeitsgruppe die Kontakte zu den bestehenden Bündnispartnern und versucht, neue zu gewinnen.
Vor etwa vier Wochen gab es eine große Überraschung: Die Berliner IG Metall, die sich bis dahin völlig neutral zum Volksbegehren verhalten hatte, verkündete öffentlich ihre Unterstützung und lud Kampagnenvertreter:innen ein, nachts auf einer Streikkundgebung bei Daimler Benz in Marienfelde zu sprechen und Unterschriften zu sammeln.
Zudem gibt es eine Vielzahl von kleineren Organisationen, die die Kampagne unterstützen und aktiv in ihren Strukturen für sie werben. Hier ist die Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF) hervorzuheben – eine migrantische Organisation, die mit eigenem Material die Kampagne begleitet und sehr aktiv in den Kiezteams mitarbeitet.

Die politischen Kräfte in der Kampagne
In der Kampagne arbeiten Mitstrei­ter:innen aus der Interventionistischen Linken (IL), der Linkspartei, den Grünen, Aufstehen Berlin und aus verschiedenen trotzkistischen Organisationen zusammen. 80 Prozent der 1700 Aktiven gehören jedoch keiner Organisation an und für viele ist es zudem die erste politische Aktivität überhaupt. 50 bis 60 Prozent sind im Alter zwischen 20 und 35, etwa 25 Prozent sind «normale» Mieter:innen, und 20–25 Prozent sind sog. «Rückkehrer:innen», also Menschen, die das letzte Mal in den 70er- und 80er Jahren politisch aktiv waren.
Die Kampagne zeigt, dass die Wohnraumfrage, aber auch die Forderung nach Vergesellschaftung das Potenzial besitzt, alle politischen Strömungen und viele Unorganisierte zu mobilisieren und zu vereinen.

Zum Organizing
In unzähligen Workshops, teils professionell organisiert, wurden im Vorfeld der zweiten Stufe des Volksbegehrens Fragen erörtert, die die Organisierung vor Ort betreffen. Wie führt man Haustürgespräche? Wie bekomme ich nicht nur eine Unterschrift, sondern auch neue Sammler:innen? Diese Workshops werden laufend fortgesetzt, unter anderem auch für neue Mitstrei­ter:innen.
Die in den Workshops gesammelten Erfahrungen sind außerordentlich gut, es zeigt sich aber auch, dass Haustürgespräche in den Großraumsiedlungen wesentlich aufwendiger sind als die Sammlung auf der Straße. Das Kommunikationsbedürfnis in der Bevölkerung ist riesig und oft verbringen unsere Sammler:innen eine halbe Stunde bei Kaffee und Kuchen, um den Menschen zuzuhören und mit ihnen zu reden.

Ausblick
Der erfolgreiche Start der Kampagne macht allen Beteiligten großen Mut für den weiteren Verlauf. Eines ist klar: Die Sammlung von 170000 gültigen Unterschriften (eigentlich 240000 Unterschriften) bis zum 25.Juni ist ein großes Vorhaben, das viel Durchhaltevermögen verlangt und unter Corona-Bedingungen nochmal erschwert verläuft. Leider ist es nicht möglich, die eigene Unterschrift online abzugeben, wahlberechtigt sind nur Berliner:innen ab 18, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Trotz all dieser Einschränkungen zeigt sich die Berliner Landeswahlleitung sehr kooperativ, bisher hat sie uns 160000 Unterschriftenlisten à jeweils fünf Unterschreibende geliefert.
Über unsere Erfahrungen werden wir ausführlich beim bundesweiten Camp zwischen dem 21. und 24.Mai berichten, zu dem die Kampagne einlädt und bei dem wir um Unterstützung für unsere Sammlung bitten, aber auch mit Information und Kultur die ganze Breite unserer Mitstreiter:innen und Unterstützer:innen vorstellen wollen.

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