Die Türkei muss aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen aussteigen – so will es Erdogan
von Nick Brauns
Per Dekret verfügte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Nacht zum 20.März den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention.
Bei diesem nach dem Ort seiner Aushandlung benannten Abkommen des Europarats aus dem Jahr 2011, das die Gleichstellung der Geschlechter in den Verfassungen und Rechtssystemen der Unterzeichnerstaaten verankern will, handelt es sich um die weltweit erste verbindliche Vereinbarung zur Verhütung und Bekämpfung von körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt gegen Frauen einschließlich Vergewaltigung in der Ehe, Zwangsheirat, weiblicher Genitalverstümmelung, Zwangsabtreibung, Zwangssterilisierung und sexueller Belästigung.
Die Türkei hatte als erstes Land das Abkommen ratifiziert – mit der Unterschrift Erdogans, der sich damals noch als Reformer feiern ließ. Praktisch umgesetzt wurde die Vereinbarung nach Ansicht feministischer Organisationen von den Behörden allerdings nicht. Es gebe seit Jahren konstant Angriffe aus der Regierungspartei auf Frauenrechte, beklagte die feministische Rechtsanwältin Selin Nakipoglu im August letzten Jahres gegenüber dem liberalen Nachrichtenportal Gazete Duvar: «Sie greifen das Unterhaltsrecht von Frauen an, sie ändern das Gesetz, damit Minderjährige heiraten können, sie planen, Vergewaltiger zu begnadigen, sie versuchen, Scheidungen selbst bei häuslicher Gewalt zu verhindern.» Wurden 2011 121 Femizide registriert, so waren es im Jahr 2020 nach Angaben der Plattform «Wir werden Frauenmorde stoppen» mindestens 300 Frauen, die von Männern aus ihrem Umfeld – oft (Ex-)Partnern, aber auch Vätern, Söhnen, Brüdern oder Schwagern – ermordet wurden. 171 weitere Frauen kamen unter verdächtigen Umständen ums Leben. Im laufenden Jahr 2021 wurden bereits 78 Feminizide registriert.
Als die AKP im Sommer letzten Jahres erstmals den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention auf die Agenda setzte, erntete sie einen Sturm der Entrüstung. In vielen Städten gingen Frauen trotz der Corona-Pandemie auf die Straße. Der Riss geht auch mitten durch die Familie von Präsident Erdogan. Dessen Tochter Sümeyye ist stellvertretende Vorsitzende der AKP-nahen «Vereinigung für Frauen und Demokratie» (Kadem), die die Istanbul-Konvention unterstützt. «Wir können nicht mehr länger von ‹Familie› sprechen in einer Beziehung, in der die eine Seite unterdrückt wird und Opfer von Gewalt ist», heißt es in einer Erklärung von Kadem vom vergangenen Sommer.
Die Türkische Jugendstiftung, deren Beirat der Präsidentensohn Bilal Erdogan angehört, fordert dagegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention. «Es ist unsere Religion, die die grundlegenden Werte und unser Familienbild vorgibt», heißt es aus der Stiftung. Nach Ansicht religiös-konservativer Kreise werde häusliche Gewalt erst durch die Untergrabung der als gottgegeben angesehenen, patriarchalen Familienstrukturen durch Frauenrechte provoziert. Die Lösung für den Schutz von Frauenrechten «liegt in unseren eigenen Bräuchen und Traditionen», behauptete Vizepräsident Fuat Oktay nach Aufkündigung der Konvention. Innenminister Süleyman Soylu sprach sogar davon, sein Land gehe im «Kampf gegen Gewalt an Frauen» nun mit gutem Beispiel voran.
In der offiziellen Begründung von Erdogans Kommunikationsdirektorat hieß es zur Begründung des Ausstiegs, der Vertrag habe ursprünglich die Rechte der Frauen fördern sollen, sei dann von einer Gruppe von Menschen okkupiert worden, die versuchten, Homosexualität zu normalisieren. Dies sei aber mit türkischen Wertvorstellungen unvereinbar.
Die Aufkündigung der Istanbul-Konvention zeugt vom wachsenden Einfluss islamistischer Sekten im türkischen Staatsapparat. Insbesondere wirbt Erdogan angesichts schwindender Zustimmungswerte für seine islamistische Regierungspartei AKP um die Unterstützung der einflussreichen Milli-Görüs-Bewegung. Ein Flügel dieser auf den Gründervater des politischen Islam in der Türkei, Necmettin Erbakan, zurückgehenden Bewegung, in der auch Erdogan politisch sozialisiert wurde, befindet sich mit der Saadet-Partei derzeit im Lager der ansonsten säkular ausgerichteten Oppositionskräfte.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Ausstiegs aus der Istanbul-Konvention kam es in Dutzenden Städten von der Ägäis-Küste bis nach Kurdistan zu Frauenprotesten unter dem Motto «Zieh deine Entscheidung zurück und halte dich an den Vertrag». Auch bei den kurdischen Newroz-Festen mit hunderttausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde vehement gegen Erdogans Kriegserklärung an die Frauen protestiert. Die Frauenbewegung in der Türkei ist gemeinsam mit der kurdischen Bewegung die dynamischste Widerstandskraft gegen das autoritäre, islamistisch-faschistische AKP-MHP-Regime.
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