Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2021

Ein Aufruf zur Rettung unserer Zivilisation
von Noam Chomsky

Die Drohung mit einem Atomkrieg, die Klimakatastrophe und die Aushöhlung der Demokratie nennt der prominente Kritiker der US-amerikanischen Politik wie auch des globalen Kapitalismus, Noam Chomsky, die drei apokalyptischen Reiter des 21.Jahrhunderts in seinem neuen Buch, Rebellion oder Untergang*.

Den nachstehenden Auszug entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Ausgabe 140 der Attac-Zeitung Sand im Getriebe.
Wir leben seit 75 Jahren unter der Bedrohung eines Atom­kriegs. Wenn man auf diese Geschichte zurückblickt, kann man über die Tatsache, dass wir bis jetzt überlebt haben, nur erstaunt sein. Wir standen wieder und wieder buchstäblich nur Minuten vor der endgültigen Katastrophe. Dass sie nicht eingetreten ist, ist letztlich ein Wunder, aber selbst Wunder dauern nicht ewig. Wir müssen dieser Gefahr ein Ende machen, und das schnell.
Die «Richtschnur zur US-Kernwaffenpolitik», [noch aus der Zeit] der Trump-Administration erhöht das Risiko einer für die menschliche Spezies tödlichen nuklearen Feuersbrunst dramatisch. Wir erinnern uns vielleicht, dass diese Richtschnur von Jim Mattis in Auftrag gegeben wurde, den Trump später als zu zivilisiert für einen Verbleib in seiner Regierung betrachtete.
Bis 2002 gab es insgesamt drei große Abrüstungsverträge: den ABM-Vertrag über Abfangraketen, den INF-Vertrag zu den «mittleren» Nuklearwaffen und den New-START-Vertrag. 2002 zogen die USA sich aus dem ABM-Vertrag zurück. Und jeder, der glaubt, Abfangraketen seien Verteidigungswaffen, täuscht sich sehr ernsthaft über diese Systeme.
Der 1987 von Gorbatschow und Reagan abgeschlossene INF-Vertrag hat die Gefahr eines Krieges in Europa, der sich dann sehr rasch ausbreiten würde, stark reduziert. Massive, öffentlichkeitswirksame Demonstrationen bildeten den Hintergrund, der zu dem Abkommen beitrug, das eine äußerst einschneidende Veränderung herbeiführte. Es lohnt sich, an diesen und viele andere Fälle zu denken, in denen eine bedeutende und breite Mobilisierung der Bevölkerung einen enormen Unterschied gemacht hat. Die Lehre daraus ist zu offensichtlich, um eigens ausgesprochen zu werden.
Viele Jahre später hat sich die Trump-Administration aus dem INF-Vertrag zurückgezogen und die Russen haben dann sofort dasselbe getan. Dazu sollte angemerkt werden, dass beide Seiten glaubwürdige Gründe für die Behauptung haben, die jeweils andere Seite habe Vertragsbruch begangen. Für Leser, die sich ein Bild von der russischen Sicht der Sache machen wollen, gab es in der wichtigsten Zeitschrift zu Fragen der Rüstungskontrolle, dem Bulletin of Atomic Scientists, einen Leitartikel von Theodore Postol, in dem er darauf hinwies, wie gefährlich die Stationierung von Abfangraketen an der russischen Grenze nicht nur grundsätzlich, sondern auch wegen ihrer Wahrnehmung aus russischer Perspektive sei. Immerhin handelt es sich hier um die russische Grenze.
Die Spannungen werden schärfer, beide Seiten führen provokative Aktionen durch. In einer vernunftgesteuerten Welt würde das zu Verhandlungen zwischen den beiden Seiten führen, bei denen unabhängige Experten die von beiden gegen die jeweils andere Seite erhobenen Beschuldigungen bewerten würden, um zu einer Lösung zu kommen und den Vertrag wiederherzustellen. So wäre es in einer vernünftigen Welt, aber leider ist das nicht die Welt, in der wir leben. Stattdessen wurden überhaupt keine Bemühungen in diese Richtung unternommen. Und solange es keinen beträchtlichen Druck gibt, wird das auch so bleiben.
Bleibt noch der New-START-Vertrag. Dieser Vertrag wurde von Trump als der schlechteste Vertrag, der je abgeschlossen wurde, abgekanzelt – die übliche Bezeichnung für alles, was seine Amtsvorgänger getan haben. Trump fügte auch hinzu, dass [die USA] den Vertrag aufkündigen müssen. Dieser Vertrag steht zur Verlängerung an, und so steht eine Menge auf dem Spiel. Ob er verlängert wird, ist eine sehr wichtige Frage, da er die Zahl der Nuklearwaffen stark verringert hat, auf ein Maß, das immer noch viel zu hoch ist, aber doch weit unter früheren Zahlen liegt. Und er könnte weitergeführt werden.

USA: führend bei der Pro­duk­tion fossiler Brennstoffe
Zugleich schreitet die Erderwärmung unerbittlich voran. In unserem Jahrtausend war mit einer einzigen Ausnahme jedes Jahr wärmer als das vorhergehende. Kürzlich veröffentlichte, wissenschaftliche Studien von James Hansen und anderen deuten darauf hin, dass die Kurve der Erderwärmung, die seit etwa 1980 eine starke Steigung aufweist, rapide nach oben steigt und von einem linearen zu einem exponentiellen Wachstum übergehen könnte, was bedeuten würde, dass die Erwärmung sich alle paar Jahrzehnte verdoppelt.
Wir bewegen uns bereits auf die Temperaturen von vor 125000 Jahren zu, als der Meeresspiegel etwa acht Meter höher lag als heute. Mit dem rapiden Abschmelzen der riesigen Eisfelder der Antarktis könnte dieser Punkt wieder erreicht werden. Die Konsequenzen dieser Entwicklung wären beinahe unvorstellbar. Ich werde nicht einmal versuchen, sie zu beschreiben, aber ich bin sicher, Sie können sie sich selbst ausmalen.
Unterdessen lesen wir in den Medien regelmäßig euphorische Berichte darüber, wie die Vereinigten Staaten ihre Förderung fossiler Brennstoffe vorantreiben: Sie haben mittlerweile sogar Saudi-Arabien überholt. Wir sind weltweit Führer in der Produktion fossiler Brennstoffe. Die großen Banken, JPMorgan Chase und andere, pumpen Geld in neue Investitionen in diese Brennstoffe, darunter auch die gefährlichsten, wie die kanadischen Teersande. All das wird äußerst begeistert und aufgeregt präsentiert: Wir sind dabei, das Ziel der «Energieunabhängigkeit» zu erreichen. Wir können die ganze Welt kontrollieren und über die Verwendung fossiler Brennstoffe in der Welt bestimmen. Dabei fällt kaum ein Wort darüber, was all das bedeutet, obwohl das ziemlich offensichtlich ist.
Das liegt nicht daran, dass die Journalisten und Kommentatoren das nicht wissen oder dass die Topmanager der Banken es nicht wissen. Natürlich tun sie das. Aber hier wirken Formen des institutionellen Drucks, denen die Einzelperson sich schwer entziehen kann.
Versetzen Sie sich einmal in die Lage des Vorstandsvorsitzenden der größten Bank, JPMorgan Chase, die gewaltige Summen in fossile Brennstoffe investiert. Er weiß mit Sicherheit genau so viel über die Erderwärmung wie Sie. Sie ist ja kein Geheimnis. Aber welche Optionen hat er? Im wesentlichen nur zwei: Die eine ist, genau das zu tun, was er tut. Die andere ist, zu kündigen und durch jemanden ersetzt zu werden, der genau dasselbe tun wird, was er jetzt macht. Es handelt sich hier nicht um ein individuelles, sondern um ein institutionelles Problem, das gelöst werden kann, aber nur durch enormen öffentlichen Druck.

Die Weltuntergangsuhr steht auf 2 Minuten vor 12
Im Januar 2019 wurde die Weltuntergangsuhr des Bulletin of Atomic Scientists auf zwei Minuten vor Mitternacht vorgestellt. So nah war sie dem endgültigen Untergang seit 1947 noch nie gewesen. Die Erklärung der Experten zur Umstellung der Uhr nannte die beiden uns schon bekannten Gefahren, nämlich die wachsende Gefahr eines Atomkriegs und die ebenfalls wachsende Gefahr des Klimawandels. Zum ersten Mal sprach sie aber auch von einer dritten Gefahr, der Aushöhlung und Schwächung der Demokratie. Sie ist neben der Erderwärmung und der Gefahr eines Atomkriegs die dritte tödliche Bedrohung. Und sie hinzuzufügen war absolut richtig, da eine funktionierende Demokratie die einzige Hoffnung bietet, die beiden anderen Gefahren abzuwenden.
Ohne massiven Druck der Bevölkerung werden die derzeit ausschlaggebenden staatlichen und privaten Machtinstitutionen diese Gefahren nicht angehen. Und das heißt, dass die Mechanismen einer funktionierenden Demokratie am Leben erhalten und so eingesetzt werden müssen, wie es die Sunrise-Bewegung und die großen Massendemonstrationen Anfang der 1980er Jahre getan haben und wie wir es auch heute tun können.

*Noam Chomsky: Rebellion oder Untergang! Frankfurt a.M.: Westend, 2021. 128 S., 15 Euro.

Noam Chomsky, geboren 1928, ist Professor emeritus für Sprachwissenschaft und Philosophie am M.I.T. Er hat die moderne Linguistik revolutioniert und zahlreiche Bestseller verfasst.

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