Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2021

Corona in der Arbeitswelt der Provinz – ein Bericht
von J.H. Wassermann*

In der Diskussion um Corona wird das Risiko, sich am Arbeitsplatz anzustecken, fast völlig ausgeblendet. Die Ausbrüche in der Fleischindustrie, in Alten- und Pflegeheimen lassen sich nicht totschweigen, ebensowenig die Bedingungen in den Logistikzentren von Amazon.

Weniger be­kannt ist, dass die AOK Erzie­her­innen für eine hoch gefährdete Berufsgruppe hält. Die Be­schäf­tigten in den vom sog. «Lockdown» betroffenen Bereichen sind sowieso daran gehindert zu arbeiten. Völlig ausgeblendet aber wird die Situation in Industrie und Handwerk.
Der nachfolgende Bericht aus ei­nem Automobilzulieferbetrieb zeigt, dass dies fahrlässig und falsch ist.
In einer altmodischen Fabrik fügen 700 Menschen jeden Tag rund um die Uhr Teile für die Automobilindustrie zusammen. Es sind keine Fließbandarbeitsplätze, eher im Gegenteil: Die Kollegen stehen einzeln an Fertigungsmaschinen und selbst wo sie in Gruppen organisiert an verketteten Anlagen arbeiten, haben sie eigentlich genug Abstand zueinander.
In der «ersten Welle» des Frühjahrs 2020 gibt es knapp zwanzig nachgewiesene Coronainfektionen. Mit einer Ausnahme ist sicher, dass alle Ansteckungen von außen in den Betrieb getragen wurden. Die Ausnahme war ein Kollege aus der Leiharbeit, den in Fahrgemeinschaft jemand angesteckt hat.
Bei jedem neuen Fall wird eine «Nachverfolgung» der Infektionskette gestartet, Manager und Betriebsräte versuchen, streng nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI), K1- und K2-Kontaktpersonen zu ermitteln. K1 heißt mehr als 15 Minuten Kontakt (zusammengerechnet über den Tag) bei weniger als 1,5 Metern Abstand zueinander. K1 wird dem Gesundheitsamt gemeldet und nach Hause geschickt. Getestet wird vielleicht auf Veranlassung des Gesundheitsamts oder auf Eigeninitiative von Betroffenen. Bei negativem Test oder zwei Wochen Symptomfreiheit darfst du wieder zur Arbeit.
K2 darf weiterarbeiten, soll sich aber beim Auftreten von Symptomen sofort melden. In dieser Phase gibt es keine Ansteckungen innerhalb des Betriebs. Kollegen kritisieren die «Zurückhaltung» bei der Vergabe von K1-Einstufungen, aber das Ausbleiben von weiteren Infektionen gibt den Managern Recht. Begehungen von Werksarzt, Sicherheitsabteilung und Betriebsrat zu Beginn der Pandemie ergeben an den Arbeitsplätzen nur minimalen Handlungsbedarf.
Noch im Frühsommer beschäftigt sich der Betriebsrat ausführlich mit einer Handreichung der IG Metall. Von den dort aufgelisteten Ideen scheinen aber nur die Schlangen vor den Stempeluhren und an den Werkszugängen verbesserungsbedürftig. Eine Entzerrung von Schichten/Arbeitszeiten, das Trennen von Kolleg:innen in kleinere, feste Gruppen (sog. «Kohortenbildung») wird als nicht notwendig beurteilt, jedenfalls aber als Eingriff in die Gewohnheiten der Kollegen für nicht wünschenswert gehalten. Das sogenannte «Homeoffice» wird hingegen von der Firmenleitung überwiegend selbst vorangetrieben.
Der Sommer beschert nicht nur gutes Wetter, sondern dem Betrieb bei durchschnittlich 20 Prozent Kurzarbeit auch infektionsfreie Monate.
In Vorbereitung einer befürchteten zweiten Welle wird im Herbst eine allgemeine Maskenpflicht, aber nur mit einer beliebigen Stoffmaske verfügt. Der Betriebsrat begrenzt das Tragen dieser Maske auf innerhalb der Gebäude und am Arbeitsplatz nur dann, wenn der Abstand von 1,5 Metern nicht eingehalten werden kann. Er zögert, denn: Wer glaubt schon an ein Infektionsrisiko ohne Kontakt oder im Freien? Der Betriebsrat versteht sich weder als Erziehungsinstitut noch als Polizei, außerdem ist ein Verstoß gegen ein «mitbestimmtes» Gebot auch abmahnungsfähig.
Als Vorboten einer zweiten Welle gibt es im Oktober wieder zehn Ansteckungen, wieder ohne innerbetrieblich verfolgbare Spur. Gegen Jahresende bringen es dann zwei Kollegen fertig, eine Stunde lang ohne Maske zusammen eine Maschine umzubauen, hinterher sind beide infiziert. Die Frage Huhn oder Ei bleibt ungeklärt.

Tsunami im Januar
Und dann der Tsunami. In der fünften Kalenderwoche werden zwei dienstliche Besprechungen durchgeführt. Ein «Spreader» verteilt vermutlich die brasilianische Variante an eine Handvoll Kollegen. Die Firma engagiert eine Testfirma, die die rund 240 Kolleg:innen des betroffenen Bereichs täglich vor Schichtbeginn freiwillig (!) schnelltestet. Die Beteiligung ist gut und in den ersten Tagen finden sich über zwanzig Positive.
Alle hatten bis zur ihrer Entdeckung noch keinerlei Symptome an sich festgestellt. Insgesamt werden durch das Testen 40 Fälle aufgedeckt. Plus den K1-Personen sind auf einmal über 70 zu Hause. Nach drei Wochen Testerei ist die Welle vorbei. Das Gesundheitsamt verfügt noch zehn weitere Tage Test, allerdings nur noch zweimal die Woche und ohne weitere Ergebnisse. Der Krankenstand in der betroffenen Halle liegt zwischendurch mal bei knapp 40 Prozent. Es gibt zwei Krankenhausaufenthalte und einige mittelschwere Verläufe. Mitte März sind fast alle wieder da.
Die zwischenzeitlich für diese Halle aufgerüstete Maskenpflicht wird von FFP2 auf OP-Maske zurückgefahren. Die von der Arbeitsschutzverordnung geforderte «Kohortenbildung» wird nun doch ansatzweise umgesetzt, eine gewisse «Entzerrung» zum Schichtwechsel und bei der Belegung der Umkleide- und Pausenräume soll das Infektionsrisiko begrenzen. Im fortlaufenden Schichtbetrieb bedeutet «Entzerrung von Schichten» eine Nichtbegegnung, die Arbeitszeit müsste dafür verkürzt werden – auf wessen Kosten? Der Wechsel in der Halle und zwischen Schichten und Hallen wird weitestgehend vermieden.
Der Betriebsrat sieht sich im wahren Sinn des Wortes «ent-täuscht». In einem Info schreibt er: Es schützen uns nur zwei Sachen: «Abstand, Abstand, Abstand und Testen, Testen, Testen!»
Er fordert von der Firmenleitung – vergeblich – freiwillige Schnelltests für alle mehrmals die Woche. Ein anständiger Antigenschnelltest, von einer Fremdfirma durchgeführt, kostet 30 bis 40 Euro, die verlorene Arbeitszeit nicht mitgerechnet.

Was lernen die Beteiligten daraus?
Ein Industriebetrieb ist in dieser Gesellschaft wahrscheinlich mit das Bestorganisierte, was es gibt. Doch trotz großem personellen Einsatz gelingt es nicht, die Infektionsketten wirklich nachvollziehbar zu machen. Es bleiben die zwei Besprechungen, bei denen offensichtlich zu viele Menschen in einem nicht ausreichend gelüfteten, zu kleinen Raum zu lange zusammengestanden haben, und zwei, drei Fahrgemeinschaften.
Die enttäuschten Betriebsräte gestehen sich ein, dass es nicht nur den «eigentlichen» Arbeitsplatz an der Maschine gibt, sondern auch andere Kontakte. Vor dem «Tsunami» wurde eben doch ohne Maske und ohne Mindestabstand miteinander gesprochen. Dann gibt es noch die Pausenräume, die Raucherecken, die Umkleideräume und Duschen, die Schlangen vor den Stempeluhren. Die gehört natürlich auch zum Arbeitsplatz in einem weiteren Sinne. Aber in der Fabrik ist es sozusagen auch der «private» Bereich. Da wird sich erholt, gegessen, gequatscht, Kaffee getrunken, geraucht, gedöst. Da trifft man die Kollegen, das macht die Schicht aushaltbar. Da ist man raus aus dem Lärm, weg vom Staub, weg von der Maschine, an die du sonst angebunden bist.
Jetzt, nach dem Schock, nach dem jeder mehrere kennt, die krank waren, ist die Selbstdisziplin deutlich höher. Selbst die zwei, drei Coronaleugner und bewussten Maskenverweigerer haben sich angepasst – auch weil die Kollegen sie «erzogen» haben. «Wenn du dich nicht testen lässt, und ohne Maske, arbeitet keiner mehr mit dir!»
Ach ja, und dann gibt es noch Fahrgemeinschaften. Die Regierung hatte ihre Belegung auf höchstens zwei beschränkt, während der Krise hatte das Gesundheitsamt sie sogar ganz untersagt. Aber eine Fahrgemeinschaft bedeutet schon mal 200 oder mehr Euro für jeden Beteiligten im Monat. Das Infektionsrisiko ist enorm – der finanzielle Anreiz aber eben auch. Bei der Befragung: «Wann bist du mit wem wie und wie lange zusammen gewesen?», sind Kollegen nicht immer ehrlich.
Die Gesundheitsämter sind für niemanden eine Hilfe. Dabei hätten sie durch das jüngst verschärfte Infektionsschutzgesetz erhebliche Befugnisse bis hin zur Ganz- oder Teilschließung.
Die Normen des Arbeitsschutzes sind zu unbestimmt und zu unternehmensfreundlich. Was ist das «betriebsnotwendige Minimum», auf das Zusammenkünfte von Menschen am Arbeitsplatz zu beschränken ist? Wann «erfordern Betriebsabläufe», dass Menschen doch in Räumen zusammenarbeiten, obwohl weniger als zehn Quadratmeter pro Mensch zur Verfügung stehen? usw.
Es bleibt übrig, was seit Beginn der Seuche gepredigt wird: immer Mindestabstand einhalten (wie groß?), Maske tragen (welche?), nicht zu viel (?) Kontakt haben. Das ist das Mantra des RKI und des Bundesgesundheitsministers. Wie wirksam ist das? Schützt das wirklich vor Infektionen? Oder vermindert dies nur das Risiko einer Ansteckung? Die Selbstverpflichtung der Arbeitgeberverbände, allen Beschäftigten Selbst- und Schnelltests anzubieten, ist im Moment nur in Merkels Worten ein «Muss», in den Betrieben angekommen ist sie noch nicht.

Betriebsräte und Gewerkschaft sind her­ausgefordert.
Die Gewerkschaft ist «abgetaucht». Die hauptamtlichen Sekretäre beraten telefonisch. Die Betriebsräte hocken in ihren Büros («Man soll ja nicht so viel Kontakt haben!»). Viele Betriebsräte in anderen Betrieben machen ihre Sitzungen seit Beginn der Pandemie nur noch elektronisch, Vertrauensleutesitzungen finden nicht statt, Betriebsversammlungen schon seit 2020 nicht. In diesem Betrieb gab es immerhin im Quartal drei und vier flächendeckende Abteilungsversammlungen – mit Abstand und Maske hielten die Betriebsräte das für verantwortbar.
In anderen Betrieben wird hier und da mit virtuellen «meetings» experimentiert. Aber die klassische innerbetriebliche Kommunikation, Diskussion und Mobilisierung ist im Moment weg. Manchen kommt das entgegen, aber für alle anderen ist es ein Problem. Alternativen müssen erst noch gefunden und ausprobiert werden: Wie treffen wir uns – und bleiben dabei gesund?

Was bleibt?
Sehr vereinzelt gab es Diskussionen, dass die Halle oder der ganze Betrieb zugemacht werden sollten. Aber was machen wir nach ein paar Wochen Schließung, wenn wir dann wiederkommen und irgendjemand wieder andere ansteckt? Flächendeckendes, häufiges Testen wäre ein Mittel, frühzeitig die asymptomatischen Virusträger und solche in Inkubationszeit herauszufiltern. Aber solange «draußen» in der Gesellschaft die Pandemie munter weitergeht, ist der einmalige betriebliche «Shutdown» nur eine Scheinlösung.
Es reicht nicht, wenn Betriebsräte, Sicherheitsfachkräfte, Manager und Betriebsärzte Arbeitsbedingungen und
-umstände angucken und dann festlegen, wie gesund gearbeitet werden kann. Verordneter Gesundheitsschutz funktioniert nur bedingt und teilweise.
Schützen müssen Kolleg:innen sich selber – dazu gehört ungeheuer viel Selbstdisziplin. Sich aber selber zu beschränken funktioniert nur durch Aufklärung und hohe, immer wieder aufgefrischte und gemeinsam erarbeitete Selbstmotivation. Selbst bescheidene Mittel wie Tests müssen erstritten werden.

*Der Autor ist ein aktives Betriebsratsmitglied.

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