Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2021

Wer die Autokonzerne bestreiken will, sollte sich an die Werkstätten wenden
von Leni Klaaß

Selbst entwickelte Produkte aus Behindertenwerkstätten, das war einmal. Heute arbeiten Menschen mit Behinderungen vor allem für große und kleine Unternehmen – für ein Taschengeld.

Über zehn Millionen Menschen mit Behinderung leben in Deutschland. 7,9 Millionen davon haben eine schwere Behinderung. 2017 waren, laut statistischem Bundesamt, dreißig Prozent auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt. Rund 320000 arbeiten in einer «Werkstatt für Menschen mit Behinderung» (WfbM). Sie fertigen und vermarkten nicht nur selbstentwickelte Produkte, etwa Holzspielzeug. Das war einmal. Heute bieten sie eine breite Palette an Fertigungen und Dienstleistungen für externe Auftraggeber an: Metallbearbeitung mit CNC-Technik, Montage- und Verpackungsarbeiten, industrielle Fertigungsaufträge, Aktenvernichtung, Wäschereidienste, Garten- und Landschaftspflege bis hin zu Mailingarbeiten. Zu den Auftraggebern gehören, angefangen bei kleinen lokalen Unternehmen, auch Chemie-, Autokonzerne und Maschinenfabriken.
Der Arbeitsalltag in einer WfbM ist eintönig, berichtet Anne C., 52, aus Kassel. Sie hat 14 Jahre in einer solchen Einrichtung gearbeitet. Fast jeden Tag musste sie dieselben Verpackungsarbeiten verrichten, vor allem für große Automobilhersteller wie VW: Kleinteile in Tüten packen, Prospekte in Mappen legen, Bücher und Werbebroschüren einschweißen. Acht Stunden saß sie an ihrem Platz auf unbequemen Stühlen.
Anne hatte die Werkstattleiter darauf angesprochen: «Ich habe gesagt, dass wir für die Arbeit neue Sitzmöbel brauchen. Das haben die überhaupt nicht ernst genommen. Wir würden doch gar keine richtige Arbeit machen, haben sie uns geantwortet.»
Anne fühlte sich nicht gefördert, sondern unterfordert. Sie wollte eigentlich viel mehr Abwechslung bei der Arbeit. Deshalb suchte sie sich Praktika und Außenarbeitsplätze und hegte die Hoffnung, wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Aber externe Angebote gab es nicht häufig, die meiste Zeit musste sie die monotone Arbeit in der WfbM machen. «Mein Gefühl war immer, dass die Werkstatt vor allem bemüht ist, mich in ihrem Gefüge zu halten,» berichtet Anne. Die offiziellen Zahlen geben ihr Recht, sie ist kein Einzelfall: Nicht einmal ein Prozent der Beschäftigten schafft den Sprung auf den regulären Arbeitsmarkt.

Zahnlose Ausgleichsabgabe
Eigentlich sollte die sogenannte Ausgleichsabgabe den Zugang dazu erleichtern: Öffentliche und private Arbeitergeber:innen mit mehr als zwanzig Arbeitsplätzen müssen demnach fünf Prozent ihrer Stellen mit Menschen mit Behinderung besetzen. Tun sie dies nicht, müssen sie zahlen.
Doch mit Ausgleichsbeträgen von maximal 320 Euro monatlich für einen unbesetzten Pflichtarbeitsplatz ist die Abgabe viel zu niedrig angesetzt. 2015 forderte sogar Wolfgang Schäuble (CDU), damals noch Bundesfinanzminister, die Ausgleichsabgabe mindestens zu verdoppeln. Corinna Rüffer, Bundestagsabgeordnete der Grünen, befasst sich seit vielen Jahren mit Behindertenpolitik. Sie verlangte 2019, gemeinsam mit anderen Abgeordneten, mindestens eine Verdreifachung.
Ein Konzern wie Ford, der im Raum Köln in mehreren WfbM produzieren lässt, kann solche Beträge aus der Portokasse zahlen. Allein im dritten Quartal 2020 erzielte der Autobauer rund zwei Milliarden Euro Gewinn – mit bundesweit etwa 24000 Beschäftigten. Der höchste mögliche Ausgleichsbetrag für Ford sind also 4,6 Millionen Euro im Jahr, weniger als ein Prozent des Gewinns aus nur drei Monaten.
Und selbst dieses Geld können Ford und andere Unternehmen noch sparen, indem sie Produktionsaufträge an eine WfbM vergeben. Dann können sie die Ausgleichsabgabe reduzieren oder werden ganz davon befreit.
«Die Werkstattleitung hat so getan, als sei es ein Liebesakt der Auftraggeber, uns diese Arbeit machen zu lassen», berichtet Anne. Oft seien es Arbeiten, die problemlos von Maschinen erledigt werden könnten. Wie sehr die Unternehmen von solchen Aufträgen profitieren, wollen sie anscheinend nicht öffentlich machen. Nach mehrfachen Anfragen bei Ford gab es auch nach Monaten keine Antwort.

Taschengeld, kein Mindestlohn
Sicher ist aber, dass die Produktion in einer WfbM für Ford und andere Unternehmen attraktiv ist: Um wirtschaftliche Wettbewerbsnachteile auszugleichen, gilt für viele Leistungen der Werkstätten – wie z.B. für Annes Verpackungsarbeiten – nur ein Umsatzsteuersatz von 7 statt 19 Prozent.
Vor allem aber fallen die Werkstätten nicht unter das Mindestlohngesetz und ermöglichen somit derart geringe Produktionskosten, die auf dem regulären Arbeitsmarkt niemals zu erzielen wären. Neben staatlichen Soziallleistungen erhalten die Beschäftigten ein Entgelt. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft WfbM bekamen die Werkstattbeschäftigten im Jahr 2019 durchschnittlich 207 Euro monatlich.
Die Bundestagsabgeordnete Rüffer hat zu dem Thema eine klare Meinung: «Wenn man die Automobilindustrie bestreiken will, sollte man sich an die Werkstätten wenden. Sie sind unglaublich produktiv, die Konzerne leben zum Teil davon.»
Auch für die öffentliche Hand ist die WfbM profitabel. Im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte Menschen wurde errechnet, dass öffentliche Kassen durch die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten jährlich etwa 400 Millionen Euro Plus machen.
Die meisten Geldflüsse rund um das System WfbM sind undurchsichtig. Das zeigt sich auch in der aktuellen Pandemie: Coronabedingte Entgeltkürzungen der Beschäftigten sollten durch Ausgleichsabgaben kompensiert werden. Voraussetzung war der Nachweis der Werkstätten, dass ihre Rücklagen verbraucht sind. Aber: «Kaum eine wollte ihre Finanzen offenlegen, letztlich haben die meisten deswegen auf die Zahlungen verzichtet», sagt Rüffer, die finanzielle Transparenz der Werkstätten und ihrer Träger lasse viel zu wünschen übrig.
Laut Gesetz sind WfbM zwar wirtschaftliche Unternehmen, aber zweckgebunden. In erster Linie sollen sie die Beschäftigten in ihrer Leistungsfähigkeit unterstützen und ihnen so eine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt verschaffen.
«Ich habe mich nie wirklich gefördert gefühlt», erzählt Anne über ihre jahrelange Arbeit dort. Das gelte allerdings nicht für alle – manche Kolleg:innen hätten gerade die gleichbleibende Arbeit geschätzt, hätten sich auch schon durch kleine Veränderungen überfordert gefühlt. «Die Werkstatt ist nicht nur schlecht, manche Menschen brauchen sie», ist sie sich sicher. Corinna Rüffer stimmt dem zu, aber das System sei aus der Zeit gefallen. «Heute steht vor allem der ökonomische Aspekt der WfbM im Mittelpunkt.»

«Das einzige, was zählt, ist Leistung»
«In der Werkstatt habe ich abgebaut,» sagt Anne «ich fühlte mich wie ein Mensch dritter Klasse.» Sie ist eigentlich eine lebhafte Frau, politisch, diskutiert gerne. Drei Ausbildungen hat sie abgeschlossen, die letzte als staatlich anerkannte Physiotherapeutin. Früher arbeitete sie Vollzeit in verschiedenen Jobs. «Zwanzigmal wurde ich gekündigt», erzählt sie. Aus Sicht des Arbeitgebers sei sie der geforderten Leistung nicht gerecht geworden. Der Grund sei eine psychische Erkrankung: Depressionen, die zur Erwerbsunfähigkeit geführt hätten. «Ich bin dem Arbeitsdruck auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht gewachsen. Das einzige was dort zählt, ist Leistung». Nach der letzten Kündigung war Anne zusammengebrochen.
Über die WfbM machte sie acht verschiedene Praktika und bemühte sich immer wieder um Außenarbeitsplätze. Zuletzt war sie halbtags als Physiotherapeutin in einer Praxis für Krankengymnastik tätig. «Ich kam dort gut zurecht», erzählt Anne. Abgewickelt wurde alles über die Werkstatt. Am Ende bekam sie für ihre halbe Stelle gerade einmal 400 Euro ausgezahlt.
Anne wünscht sich einen «geschützten Arbeitsplatz, einen Job, den ich gerne mache». Und der angemessen bezahlt wird. Die Werkstatt ist für sie heute keine Alternative mehr. Einen Satz hat sie in all den Jahren unzählige Male gehört: «Ihr Beschäftigten genießt in der Werkstatt einen besonderen Schutz.» Sie kann es nicht mehr hören.

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