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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2021

Die Pandemie aus der Sicht eines Ökologen
von Marius Gilbert*

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Pandemie, ausgelöst durch Erreger aus der Tierindustrie, ausbricht.
Wenn man sich Krankheiten von einer ökologischen und nicht von einer medizinischen Ausbildung her nähert, dann betrachtet man Krankheitserreger als Teil eines Ökosystems. Das ist eine ganz andere Perspektive als die von Medizinern oder Tierärzten, die dazu ausgebildet sind, Krankheitserreger in Verbindung mit Heilung zu betrachten.

Einer meiner Mentoren war einmal sehr frustriert, dass es in seiner Ausbildung zum Tierarzt hauptsächlich darum ging, eine Verbindung zwischen Symptomen und Heilmitteln herzustellen. Was zwischen den beiden passierte, blieb aber eine Black Box – darin finden sich die Physiologie der Organe, aber auch Krankheitserreger, Bakterien, Viren und so weiter… All die evolutionären Mechanismen, die an der Interaktion zwischen Wirt und Erreger beteiligt sind und die zu Veränderungen in der Virulenz oder zur Entstehung von Krankheitserregern führen können, bleiben dabei außen vor.
Die Ökologie hat den medizinischen Wissenschaften an dieser Stelle eine Menge zu bieten. Das hat allmählich dazu geführt, dass in den letzten zehn, zwanzig Jahren das Gesundheitskonzept etwa der Weltgesundheitsorganisation (WHO) um die Erkenntnis erweitert wurde, dass Gesundheit nicht nur eine Aufgabe von Ärzten ist, dass es vielmehr einen Zusammenhang zwischen der Gesundheit von Menschen, von Tieren und von der Umwelt gibt und diese Dimensionen gleichzeitig angegangen werden müssen.
An dieser Entwicklung hatte das Auftreten der Vogelgrippe großen Anteil. Denn die Influenza tritt an der Schnittstelle zwischen Wildtieren, Wildvögeln, Landwirtschaft, Geflügelhaltungssystemen und der menschlichen Gesundheit auf und wird über die Handelsketten in den Markt für lebendes Geflügel getragen.
Es geht also nicht nur um die Gesundheit des Menschen, sondern um die von Ökosystemen – diese sind in den letzten zehn Jahren rasanten Veränderungen unterworfen worden. In meinem Labor haben wir zu verstehen versucht, warum Vogelgrippeviren an der Schnittstelle zwischen Wildtieren, Geflügelsystemen und Menschen auftreten.
Vieles davon hängt damit zusammen, wie sich die Geflügelhaltung im Laufe der Zeit intensiviert hat, weil die Nachfrage gestiegen ist. Es gibt somit eine Reihe von Veränderungen, die sich gegenseitig bedingen. In der Welt der Forschung ist dies bislang nie oder nur selten mit der politischen Ökonomie und mit Aspekten des Kapitalismus in Verbindung gebracht worden. Rob Wallace ist einer der wenigen Wissenschaftler, die das Pandemierisiko im Zusammenhang betrachten.

Industrielle Landwirtschaft
In den letzten 50 Jahren hat der Mensch die Tierwelt komplett verändert. Was macht die Hauptsache der Biomasse aller an Land lebenden Wirbeltiere heute aus? Zum weitaus größten Teil sind das die Nutztiere. Andere Wirbeltiere, Elefanten, Frösche, Reptilien, die Wildtiere haben nur einen winzigen Anteil daran. Nutztiere stehen an der Spitze dieser Biomasse. Dann kommt der Mensch.
Der gesamte Genpool von Viren und Krankheitserregern in der Tierwelt befindet sich aber unter Wildtieren, weil es dort eine große genetische Vielfalt gibt. Doch wo hat ein Krankheitserreger die besten Evolutionschancen? Bei den Nutztieren natürlich, weil dort die Biomasse am größten ist. Der Selektionsdruck treibt sie also erst dahin und dann zum Menschen.
Diese Tatsache ist eine direkte Folge davon, wie sich unsere Ernährung im letzten Jahrhundert verändert hat. Dies wiederum ist eine Folge unseres wachsenden Wohlstands, das wurde vielerorts beobachtet. Wird die Bevölkerung reicher, steigt die Menge an tierischem Eiweiß, die sie zu sich nimmt. Paart sich menschliches Bevölkerungswachstum mit Veränderungen im Wohlstand und in der Ernährung, kommt es zu einer drastischen Steigerung der Nachfrage nach tierischen Proteinen: Fleisch, Eier und Milch – und das wiederum treibt die Industrialisierung der Viehzucht an, die auf die veränderte Nachfrage schnell reagieren will.
Industrialisierung heißt an dieser Stelle, die Produktion wird standardisiert. Hinzu kommen Skaleneffekte und alles, was zu klassischen Prozessen der Industrialisierung gehört. Mit dem Unterschied, dass es sich um lebende Systeme handelt, und in lebenden Systemen gibt es Krankheitserreger. Wenn man versucht, Tiere in großer Zahl und unter sehr dicht gedrängten Bedingungen zu züchten, verändern sich für die Krankheitserreger die Bedingungen der Evolution.
Aus der Sicht eines Krankheitserregers gibt es immer einen Kompromiss zwischen Virulenz und Übertragbarkeit. Ist das Virus zu virulent, dringt es also in alle Zellen des Organismus ein, den es infiziert, besteht das Risiko, dass es den Wirt tötet, bevor dieser den Erreger weitergeben kann.
Ebola-Viren z.B. sind nicht wirklich gefährliche Viren, weil sie dazu neigen, den Wirt so stark zu schädigen, dass es für ihn schwierig wird, das Virus zu übertragen. Für ein Virus ist es eine evolutive Sackgasse, hoch virulent zu sein. Ist die Virulenz aber sehr niedrig, gibt es womöglich nicht genügend virale Partikel in den Ausscheidungen des Wirts, wodurch die Übertragung ebenfalls gestoppt würde.
Alle Krankheitserreger, die die Fähigkeit haben sich evolutionär zu entwickeln, müssen ständig zwischen diesen beiden Polen einen Kompromiss finden. Die Fähigkeit zur Evolution unterscheidet sich von Erreger zu Erreger. Bei komplexen Organismen geht die Evolution viel langsamer vor sich als bei einfachen Organismen. Viren sind deshalb am gefährlichsten, weil sie sehr schnell mutieren und sich damit weiterentwickeln können.
Wird Geflügel in einem Hinterhof gehalten, wo die Leute nur ein paar Hühner haben, ist es vom Standpunkt der Evolution gesehen keine gute Idee, hoch virulent zu sein, weil das Huhn getötet würde, bevor es das Virus weitergeben kann. Stehen aber viele Hühner dicht nebeneinander, ist hohe Virulenz ein Vorteil, weil ein einziges Virus, das in einen Stall eindringt, auf so gut wie keinen Widerstand stößt, um andere Hühner anzustecken. Je dichter die Hühner gehalten werden, desto geringer der Widerstand für das Virus. Das ist der erste Faktor.
Der zweite Faktor betrifft die genetische Vielfalt. In Betrieben mit extensiver Tierhaltung gibt es eine große Vielfalt an Rassen. Die Produzenten wollen Hühner, die einander sehr ähnlich sind, sodass es eine sehr geringe genetische Varianz zwischen den Individuen gibt. Das erleichtert die Evolution hin zu einer hohen Virulenz, denn unter diesen Bedingungen hat das Virus eine höhere Chance, das nächste Individuum zu infizieren, weil es genetisch so ähnlich ist.
Drittens gibt es in industriellen Systemen das Prinzip: alle rein, alle raus. Tausende von Tieren werden auf einmal in den Stall gebracht, und sobald sie schlachtreif sind, kommen sie alle raus. Taucht ein Virus auf, ist die Sterblichkeit hoch, alle Tiere werden geschlachtet und mit der nächsten Charge von identischen Organismen aufgefüllt. Die Tiere haben keine Möglichkeit, Resistenzen zu entwickeln, weil sie sich nicht reproduzieren können.
Bei extensiven Systemen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass einige Individuen Resistenzen entwickeln, weil es viele verschiedene Rassen gibt. Und der Tierhalter wird die Eier der Hühner, die überlebt haben, höchst wahrscheinlich zur Aufstockung des Bestands verwenden. Die Resistenzgene können örtlich also übertragen werden.
Theoretisch sind diese Prozesse inzwischen gut beschrieben und auch empirisch beobachtet. Wir sehen, dass neuartige, hochpathogene Viren am häufigsten in Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen auftreten, nicht in Ländern mit niedrigem Einkommen, wo die Systeme der Tierhaltung extensiver sind. Das passt zu intensiven, industrialisierten Produktionssystemen, die mit einem Verlust an genetischer Vielfalt und mit einer sehr hohen Populationsdichte verbunden sind.

Mensch und Wildtier
Dann ist da die Beziehung zwischen Menschen und Wildtieren. Historisch gesehen hat sich die Landwirtschaft in Überschwemmungsgebieten entwickelt, weil diese Gebiete fruchtbar waren: im Nildelta, das Tal des Roten Flusses in Vietnam, die Gangesebene in Bangladesh, der Perlfluss in China. In diesen natürlichen Feuchtgebieten gab es aber auch eine starke Entwicklung anderer Tierarten. Somit gibt es in diesen Gegenden bis heute eine große Schnittstelle zwischen Wildtieren. Hier konzentriert sich viel Landwirtschaft, und weil es hier viele Futtermittel gibt, gibt es auch eine industrialisierte Geflügelhaltung – und viele Menschen. Diese Schnittstellen fallen in Asien stärker ins Gewicht als anderswo, weil die Gebiete hundertmal so groß sind – die Dimensionen sind wirklich beeindruckend.
Es ist deshalb kein Zufall, dass so viele Pandemieviren in Asien auftauchen, zumal in den letzten Jahrzehnten, in denen sich die Produktionssysteme dort sehr schnell verändert und intensiviert haben. Die Veränderungen der Produktionssysteme sind offensichtlich mit einem Pandemierisiko verbunden – etwa bei der Vogelgrippe oder der Schweinepest.
Es gibt viele Beispiele für Seuchen, die im Zusammenhang mit der Intensivierung von Produktionssystemen virulenter geworden sind. Es gibt auch viele Beispiele für den Anstieg von Antibiotikaresistenzen bei Bakterien, sie hängen ebenfalls mit der intensiven Tierhaltung zusammen – der Unterschied ist nur, dass Bakterien sich weniger rasch entwickeln. Pathogene Bakterien verbreiten sich auf solchen Farmen wie ein Lauffeuer, so dass man fast gezwungen ist, Antibiotika in hohen Dosen zu verabreichen, um den Bestand zu schützen.
Das ist der allgemeine Hintergrund für die aufkommenden Infektionskrankheiten. Die Frage ist dann: Was tun wir dagegen? Wie können wir die Systeme so verändern, dass sie von Natur aus resistenter sind? Diese Frage wird jedoch nicht wirklich in Angriff genommen, weil es den anderen Mythos gibt, dass sie sich allein durch Impfen lösen lässt.
Impfen ist ein Teil der Lösung, aber eben nur ein Teil. Ein anderer Teil ist, das Problem an der Wurzel zu packen und parallel zu den Trends in der Agrarökologie ökologische Grundsätze zu nutzen, um widerstandsfähigere landwirtschaftliche Systeme aufzubauen, die die Vielfalt vor Ort erhöhen und die Dichte reduzieren. Das hat natürlich einen Preis: Man kann nicht so viel produzieren, aber man kann die Systeme widerstandsfähiger machen.
Der Übergang von Wildtieren über Zuchttiere auf den Menschen ist häufig, der direkte Sprung von Wildtieren auf Menschen hingegen sehr selten. Es gibt aber auch andere Zusammenhänge zu den aufkommenden Infektionskrankheiten: etwa die Veränderung in der Landnutzung und der Entwaldung; oder der Klimawandel – wenn etwa verstärkte Windströmungen Infektionskrankheiten global verbreiten.

*Marius Gilbert ist Epidemiologe an der Freien Universität Brüssel (ULB). Sein Hintergrund sind die Agrarwissenschaften. Ursprünglich hat er an der Modellierung von Plagen gearbeitet und ist dann zur Modellierung von Infektionskrankheiten übergegangen, hauptsächlich von Tierkrankheiten. Das hat einen starken Bezug zu den Ursprüngen von Pandemien, insbesondere zu der Art und Weise, wie die Transformation der Welt zu einer Erhöhung des Pandemierisikos führen kann.

Der vorliegende Text ist die auszugsweise Übersetzung eines Vortrags, den er per Zoom am 21.Januar 2021 gehalten hat.

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