Das neue Buch von Sahra Wagenknecht ist eine Streitschrift
gegen die gesamte Linke
von Thies Gleiss
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt, New York: Campus, 2021. 345 S., 24,95 Euro
Die Talkshow-Queen und immer noch Mitglied der LINKEN, Sahra Wagenknecht, hat ein neues Buch geschrieben. Eine kleine Panne führte dazu, dass es drei Tage vor der Kandidatenaufstellung für die NRW-Landesliste zur Bundestagswahl an die Öffentlichkeit kam.
Das Ergebnis für Sahra Wagenknecht war schlecht, es gab kaum einen, der für ihre Aussagen das Wort ergreifen wollte. Sie wurde nur für ihre anerkannte Rolle als bekanntestes Gesicht der LINKEN gewählt. Ein Blick in die Kommentare auf den sozialen Medien zeigt jedoch schon seit langem, dass die meisten ihrer Anhänger:innen in ihr gar keine LINKE mehr sehen. «Tolle Frau in blöder Partei», lautet das wiederkehrende Motto.
Als tolle Frau in blöder Partei scheint sich Sahra Wagenknecht selbst zu sehen. Nach vielen Büchern, in denen Sahra mit Ludwig Erhard gegen bigotte Ideologen und Wissenschaftler:innen der Bürgerklasse zu Felde gezogen ist, präsentiert sie diesen der weltweiten Linken nun als Vorbild. Damit ist sie restlos gescheitert.
Die Lifestyle-Linke
Das gesamte Buch ist eine Streitschrift gegen eine politische Spezies, die Wagenknecht als «Linksliberale» oder Lifestyle-Linke bezeichnet. Wer verbirgt sich dahinter? Nicht weniger als fast alle sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien und ihre Führungen in der Welt: Tony Blair und Gerhard Schröder, Hillary Clinton und François Hollande – sie sind zugleich Linksliberale und Neoliberale. Dass diese Truppe von bürgerlichen Regierungspolitiker:innen seit Jahrzehnten von links kritisiert und ihnen selbst das Etikett «sozialdemokratisch» abgesprochen wird, spielt in ihrer Streitschrift keine Rolle.
Denn auch die Kritiker:innen dieser «Spezialdemokraten» sind für sie nichts als Lifestyle-Linke: die neue Linke in den USA um die DSA und Alexandria Ocasio-Cortez, die neuen Linksparteien in Europa und natürlich DIE LINKE in Deutschland. Bernd Riexinger, der langjährige Vorsitzende der LINKEN, findet als «der damalige Vorsitzende einer deutschen linken Partei, dessen Name heute zu Recht vergessen ist» Erwähnung.
Lifestyle-Linke machen sich alle eines Vergehens schuldig: Sie haben die politische Ökonomie als Richtschnur ihres Handels verschiedenen Formen der Identitätspolitik untergeordnet. Zu ihnen gehören deshalb auch die vielen Bewegungen, die sich um besondere Belange von Teilen der Gesellschaft kümmern: die Frauenbewegung; die Klimagerechtigkeitsbewegung, namentlich Fridays for Future; die antirassistische Bewegung Black Lives Matter; Seebrücke – die Solidaritätsbewegung für Geflüchtete und viele andere.
Deren hoffnungslose Verstrickung in «Identitätspolitik» wird gar nicht nachgewiesen, stattdessen führt sie besonders exotische Beispiele für Identitätspolitik wie Cancel Culture oder die These der «kulturellen Aneignung» als stellvertretend für alle an.
Wenn der Kampfbegriff zu breit und zu beliebig ist, muss jeder Streit hilflos verpuffen. Die ganze Welt weiß, dass die LINKE zum Beispiel als politische Antwort und Alternative zur Schröder-SPD entstanden ist. Wenn jetzt beide gleichermaßen Linksliberale sind, dann nützt die Kritik nichts.
Maß und Mitte
Statt Identitätspolitik müsse heute eine Politik für die ökonomischen Interessen der echten Arbeiterklasse entwickelt werden. Das sei eine konservative Schicht, die an den alten Werten der 60er und 70er Jahre hänge. Die wolle eine klare Differenzierung und Aufstiegsmöglichkeit nach Leistung. Die Politik müsste «Maß und Mitte» beachten und Gerechtigkeit statt Gleichheit zum Ausgangspunkt nehmen. Eine solche Politik sei «naturgemäß» an den Nationalstaat gebunden und müsse diesen vor zu viel ungeregelter Zuwanderung schützen. Gleichzeitig würde die Zuwanderung auch große ökonomische Löcher in den Herkunftsländern hinterlassen.
Die Verlagerung von Sozial- und Gerechtigkeitspolitik auf Identitätspolitik und Linksliberalismus habe schon mit der 1968er Bewegung begonnen. Sie kaperte die sozialdemokratischen Parteien, vor allem die SPD, und zwang ihnen den neuen Kurs auf. Der Ordoliberalismus, der vor der 68er Zeit eine große Rolle gespielt habe, sei als Alternativmodell einer geregelten sozialen Marktwirtschaft verdrängt worden.
Zuletzt wiederholt Sahra Wagenknecht ihr Modell eines gezähmten Kapitalismus mit rechtschaffenen Unternehmern und Mittelständlern, deren Konkurrenz durch Monopole und Finanzheuschrecken der Staat wegregulieren müsse.
Wagenknecht spielt hier mit bekannten konservativen Floskeln: Leistung muss sich wieder lohnen, Maß und Mitte, der links-grün-versiffte Sumpf der 68er, Nationalstaat als Ende der Geschichte, schaffendes und raffendes Kapital. Das ist von CDU und FDP wie auch von der AfD hinlänglich bekannt. Konsequent nennt Sahra Wagenknecht das einen notwendigen «Linkskonservatismus».
Das ist nicht mehr Koketterie wie noch in den früheren Büchern. Das ist Sahra Wagenknecht selbst und so, wie sie sein möchte. Links ist das nicht mehr in Ansätzen.
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