Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2021

Internationale Wissenschaftler unterscheiden klar und unmissverständlich zwischen Judenfeindschaft und legitimer Kritik an Israel
von Arn Strohmeyer*

Es war und ist schwer zu ertragen: Israels mächtiger Propagandaapparat hat seit vielen Jahren versucht, der internationalen Öffentlichkeit einzubläuen, dass Unrecht Recht und das Behaupten des Gegenteils eben Antisemitismus sei.

Konkret heißt das: Wer Israels verbrecherische Politik gegenüber den Palästinensern nicht gutheißt, sondern sie mit Berufung auf Völkerrecht und Menschenrechte kritisiert, muss mit der schlimmsten Diffamierung rechnen, die es seit dem Mega-Verbrechen an Juden (Holocaust) gibt: das Anprangern als Antisemit; man wird – Gipfel des infamen Rufmords – mit Nazischergen auf eine Stufe gestellt.
Israel fordert also nicht mehr und nicht weniger, dass auch die nichtjüdische Welt außerhalb Israels sich die zweifelhaften zionistischen Rechts- und Moralvorstellungen zu eigen machen soll. Diese hat die frühere israelische Justizministerin Ajelet Shaked einmal so formuliert: Den Zionismus interessiert das internationale Recht nicht, er hat seine eigenes Rechts- und Moralsystem.
Nun ist diese Art des Antisemitismus-Vorwurfs keineswegs neu, weshalb der Begriff «neuer» Antisemitismus auch gar nicht zutrifft. Er ist eine schon sehr lange ausgeübte zionistische Praxis.
Der deutsche Soziologe Walter Hollstein schrieb in seinem 1972 erschienenen Buch Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts, antizionistische Positionen, die weder die Israelis noch den Staat Israel prinzipiell in Frage stellten, sondern nur die Auswirkungen des Zionismus kritisierten, seien aus zionistischer Sicht antisemitisch.
Auch das Benennen historischer Tatsachen – etwa der Nakba – sei in diesem Sinn antisemitisch. Hollstein fügt hinzu, dass Israel sich mit solcherart Vorwürfen natürlich vor Kritik an seiner Unrechtspolitik schützen wolle.
Israel hat diese Art des propagandistischen Vorgehens sehr erfolgreich weiter entwickelt – der Feldzug gegen BDS ist dafür ein gutes Beispiel. Viele Staaten und internationale Organisationen – Deutschland an der Spitze – haben dem israelischen Druck nachgegeben und sind willig den israelischen Vorgaben gefolgt – wider jede Vernunft und Moral. Denn es war von Anfang an klar, dass Israel einen hier speziell auf seine Bedürfnisse zugestutzten Antisemitismusbegriff benutzt – also einen funktionalen Antisemitismusbegriff: Antisemitismus ist so gesehen das, was die israelische politische Führung dafür ausgibt und was ihren Interessen dient, so der israelische Holocaustforscher Daniel Blatman.

Der Antisemitismusbegriff der IHRA
Die israelische Politik tut alles, um diesen Antisemitismusbegriff auch international durchzusetzen. Das Ergebnis war u.a. die Antisemitismus-Definition der IHRA, einer Organisation, die von israelischen Vertretern dominiert wurde und wird und die ganz deutlich die Interessen Israels in den Vordergrund stellt.
Daniel Blatman merkt dazu an: Interessant und aufschlussreich ist, wie der IHRA-Text zustandegekommen ist. Israels Einfluss in der IHRA sei sehr stark, denn es sei dort führendes Mitglied, und der Holocaust-Forscher Yehuda Bauer sei ihr erster akademischer Berater. Zudem habe Israels Ministerpräsident Netanyahu die Organisation wegen ihrer Rolle im Kampf gegen BDS geradezu verherrlicht.
Blatman nennt IHRA eine «unnötige und zerstörerische Organisation». Man muss daraus schließen, dass Israel sich sehr geschickt gegen Kritik an seiner so umstrittenen Politik abgesichert hat: einmal durch den funktionalen Antisemitismusbegriff, wie Blatman dargelegt hat, und dann noch durch die IHRA-Definition.
Der von der IHRA-Plenarversammlung 1956 in Bukarest ursprünglich beschlossene Text wurde vom Berliner IHRA-Büro durch «Beispiele» noch erweitert, die den «Israel-bezogenen Antisemitismus» besonders betonen: etwa durch die Formulierung, dass das Absprechen des Rechts auf Selbstbestimmung des jüdischen Volkes antisemitisch sei.

Eine Definition mit verheerenden Folgen
An diesem Punkt muss man fragen: Kann es Selbstbestimmung auf Kosten eines anderen Volkes (der Palästinenser) geben? Von der völkerrechtlich abgesicherten Selbstbestimmung dieses Volkes, auf dessen Boden Israel größtenteils lebt, ist in den Beispielen gar keine Rede.
Zweifelhaft ist auch der Satz: Antisemitisch sei das Anwenden von doppelten Standards durch das Einfordern eines Verhaltens, wie es von keiner anderen demokratischen Nation erwartet und gefordert werde. Das wirft die Frage auf: Ist der israelische Staat, in dessen besetzten Gebieten fünf Millionen Menschen ohne bürgerliche und politische Rechte leben müssen und in dessen Kernland die Palästinenser (ein Fünftel der Bevölkerung) per Gesetz Bürger zweiter Klasse sind, wirklich eine Demokratie, an die man ganz normale Maßstäbe anlegen kann?
Die Kritik an der IHRA-Definition blieb denn auch nicht aus. Wissenschaftler halten sie für inkonsistent, widersprüchlich und zu vage formuliert. Die Kerndefinition des Antisemitismus hebe einige antisemitische Phänomene und Analysen übermäßig hervor, spare andere wesentliche aber weitgehend aus. Außerdem sei diese Definition ein «Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahost-Konflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus zu diskreditieren» (Peter Ullrich).
Die israelische Propaganda und die Anhänger Israels glaubten nun aber, eine «Rechtsgrundlage» für ihre Diffamierungskampagnen zu haben. Die Folge waren eine massive Einengung der Meinungs-, Presse-, Informations- und Wissenschaftsfreiheit in den westlichen Staaten und nicht zuletzt eine völlige Vergiftung des politischen Klimas.

Die universalistische Gegenposition
Gegen diese Entwicklung geht nun die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus an, die jüdische, israelische und nichtjüdische Wissenschaftler erstellt haben. Sie arbeiten auf den Gebieten Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahost-Studien. Ihr Ziel ist es erstens, den Kampf gegen den Antisemitismus zu verstärken, indem geklärt wird, was er ist und wie er sich manifestiert; zweitens einen Raum für eine offene Debatte über die leidige Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu schützen.
Dies ist ein universalistischer Ansatz, der die Menschenrechte und das Völkerrecht anerkennt – im Gegensatz zur IHRA-Definition, die mit ihren Beispielen eher die partikularistisch-nationalistisch-zionistischen Interessen Israels vertritt. Die Jerusalemer Erklärung unterscheidet zudem zwischen Judentum und Israel und stellt die israelischen Juden nicht als Opfer und die Palästinenser als die Aggressoren dar.
Die Jerusalemer Erklärung sagt u.a. klipp und klar, dass die Unterstützung der palästinensischen Forderung nach Gerechtigkeit und der uneingeschränkten Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und Menschenrechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind, nicht antisemitisch ist.
Auch Kritik oder Ablehnung des Zionismus als Form des Nationalismus und die Argumentation für eine Vielzahl von Verfassungsregelungen für Juden und Palästinenser in der Region zwischen Jordan und dem Mittelmeer sind nicht antisemitisch. Auch die Forderung nach Gleichheit für alle Bürger «zwischen Fluss und Meer» – egal in welcher staatlichen Form sie realisiert werden sollte, ist nicht antisemitisch.
Zudem fällt auch Kritik an Israel als Staat, seinen Institutionen und Gründungsprinzipien und an seiner Politik im In- sowie Ausland sowie auch der Hinweis auf Rassendiskriminierung durch Israel nicht unter die Kategorie Antisemitismus. Das gilt auch für die BDS-Bewegung, die als alltägliche, gewaltfreie Form des politischen Protestes gegen Staaten bezeichnet wird.
Die Jerusalemer Erklärung ist ein großer Fortschritt in der Antisemitismus- und Nahost-Debatte, weil sie die Auseinandersetzung mit den universalistischen Prinzipien von Vernunft und Aufklärung angeht. Außerdem stellt sie Israels Monopol in Frage, allein und sehr einseitig darüber bestimmen zu können, was Antisemitismus ist.
Es wird mit dieser Erklärung schwieriger, ja unmöglich, die Vertreter von Menschenrechten und Völkerrecht, die für die Rechte der Palästinenser eintreten, an den Antisemitismus-Pranger zu stellen. Die Jerusalemer Erklärung stellt Recht und Moral wieder vom Kopf auf die Füße.

Mehr Infos. Die Erklärung im Wortlaut und mit der ganzen Liste der Unterzeichneten findet sich hier: https://jerusalemdeclaration.org/.

*Arn Strohmeyer ist Journalist und Autor mit Schwerpunkt Naher Osten. Seine Webseite: www.arnstrohmeyer.de.

Siehe auch unseren Artikel: JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS – Definition und Leitlinien.

Print Friendly, PDF & Email
Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.