Lateinamerika: Migration und Flucht nehmen umso mehr zu, je stärker die Kräfte sind, die sie aufzuhalten versuchen
von Leo Gabriel
Zentralamerika ist wie eine Maschine, die ihre Einwohner auswirft», titelte vor kurzem das salvadorianische Internetportal El Faro. Laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) leben acht von zehn seiner Einwohner an der Grenze zur extremen Armut.
Rechnet man den hohen Prozentsatz an Gewalt, Korruption und Drogenhandel hinzu, ist es kein Wunder, dass die meisten davon träumen, auf irgendeine Weise – wie gefährlich auch immer – in die USA zu gelangen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese fliehenden Massen aus dem sogenannten Triángulo Norte (Guatemala, Honduras und El Salvador) zusammen mit den mexikanischen Migrant:innen bereits eine eigene Nation gebildet haben.
Nach Angaben der US-Migrationsbehörden wurden allein im März dieses Jahres zwischen Tijuana und Nuevo Laredo 170000 Mesoamerikaner:innen – unter ihnen zahlreiche unbegleitete Kinder – bei ihrem Versuch festgehalten, in die USA einzureisen. Dieser neuerliche Ansturm ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der neue US-Präsident Joe Biden eine Reihe von Verordnungen erlassen hat, die die Zusammenführung von Familien und die Unterbringung von unbegleiteten Kindern ermöglichen sollen.
Bidens Kehrtwende in der Migrationspolitik
Diese Politik steht im Gegensatz zu der seines Vorgängers, der die Idee verfolgte, sämtliche Lücken in der etwa 3000 Kilometer langen Grenzmauer zwischen Mexiko und den USA zu schließen. Nachdem Donald Trump mit diesem größenwahnsinnigen Vorhaben im US-Kongress immer wieder gescheitert war, griff er zu einer List. Sie bestand darin, den seit drei Jahren im Amt befindlichen linksliberalen mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) unter der Androhung von Wirtschaftssanktionen dazu zu bringen, den Flüchtlingsstrom durch die Mobilisierung von Mexikos neu aufgestellter Nationalgarde zu stoppen.
Außerdem hatte Trump ausgerechnet die zentralamerikanischen Präsidenten dazu gezwungen, ihre Länder zu «sicheren Drittstaaten» zu erklären, um die Weiterreise der Flüchtlinge zu verhindern bzw. ihre Rückführung «zu erleichtern».
Doch Biden muss immer wieder betonen, dass die von ihm unterschriebenen Verordnungen, mit denen er die Maßnahmen seines Vorgängers außer Kraft setzt, keine Gesetzeskraft haben – ein Umstand, der schon Präsident Obama zum Verhängnis wurde. Auch die Ernennung seiner schwarzen Vizepräsidentin Kamala Harris zur Beauftragten für Migrationsfragen ändert wenig daran, dass die Befolgung der Dekrete vielfach vom Gutdünken der Gouverneure der einzelnen US-Bundesstaaten und ihrer rassistisch geschulten Migrationsbehörden abhängt.
Inzwischen hat sich der Strom der Migrant:innen nicht nur weiterbewegt, sondern ist seit der Amtsübernahme Bidens sogar sprunghaft angestiegen. Wurden im Dezember des Vorjahres an der Grenze zwischen Mexiko und Guatemala 1525 unbegleitete Kinder und Jugendliche registriert, waren es im März dieses Jahres bereits 3139 – Tendenz steigend.
Für AMLO und die Präsidenten von Honduras und Guatemala ist das ein Anlass, die Truppen an den Grenzen zu verstärken, um «die Minderjährigen zu beschützen», wie der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard nach seinem jüngsten Besuch in Washington erklärte.
Militarisierung der Grenzen
Allein die mexikanische Nationalgarde hat bereits 10000 Soldaten in die Region Chiapas mobilisiert, was insbesondere bei den Rebellen der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN auf heftige Proteste stößt. Im Gegenzug haben die USA ein paar Millionen des kostbar gewordenen Biontech/Pfizer-Impfstoffs an Mexiko geliefert und 2 Milliarden Dollar für einen zentralamerikanischen Entwicklungsplan zugesagt, der vor allem in die Länder des Triángulo Norte fließen soll.
Viele Zentralamerikaner:innen bezweifeln jedoch, dass die Rechnung «Entwicklungshilfe gegen Migrantenstopp» aufgehen wird. Erstens weil in Honduras und Guatemala die Korruption so sehr um sich gegriffen hat, dass niemand glaubt, die aus dem Ausland kommenden Mittel würden tatsächlich den Bedürftigen zugutekommen. Und zweitens, weil bei der Geldverteilung die Militärs, deren Gebaren mehr als undurchsichtig ist, eine tragende Rolle spielen.
Die Tendenz zu Aufwertung der Militärs durch die Politik zieht sich wie ein roter Faden durch die an US-Interventionen und Putschversuchen nicht gerade arme Geschichte Zentralamerikas. Durch die Pandemie wurde die Tendenz noch verstärkt. So ist es in Ländern wie Honduras, Guatemala und El Salvador durchaus keine Seltenheit, dass bewaffnete Einheiten kontrollieren, ob die Bevölkerung den verordneten Lockdown auch einhält. Gleichzeitig treibt die auf Grund der Pandemie stark gestiegene Arbeitslosigkeit viele Jugendliche in die Fänge krimineller Banden, die ihrerseits wieder mit der Polizei und Armee zusammenarbeiten.
Kurz: Die Pandemie zeigt in ganz Mittelamerika (unter Einschluss des Südens von Mexiko) wie durch ein riesiges Vergrößerungsglas die ungeheuren sozialen Spannungen und die Gewalt an unschuldigen Menschen, die dort herrschen. Vor allem die Zahl der Frauenmorde hat im letzten Jahr so stark zugenommen, dass auch viele alleinstehende Mütter mit Kleinkindern nicht davor zurückschrecken, den langen und beschwerlichen Weg in Richtung USA auf sich zu nehmen.
Das Beispiel Honduras
Da nützen auch die zahlreichen Appelle von Joe Biden nichts, dass die Zentralamerikaner:innen «in ihren Dörfern und Gemeinden bleiben und nicht in die USA kommen sollen». Denn unter den gegenwärtigen Bedingungen ist der Lauf der Geschichte vorprogrammiert.
Das markanteste Beispiel dafür ist Honduras. Waren es Anfang 2000 noch 340000 Honduraner:innen, die das Land verlassen haben, so leben heute über eine Million im Ausland, etwa 9 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Der Exodus aus Honduras, der im Augenblick in vollem Gange ist, ist u.a. auf die dort herrschende Gewalt und Korruption zurückzuführen, die die allerhöchsten Sphären durchdringt. So wurde kürzlich der Bruder des Langzeitpräsidenten Juan Orlando Hernández von einem US-amerikanischen Gericht wegen seiner Beteiligung am internationalen Drogenhandel zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Aber auch Umweltkatastrophen wie die beiden Hurrikans Eta und Iota, die Ende vergangenen Jahres gewütet haben, machen das Überleben in vielen Gegenden von Honduras unmöglich.
Lösungsansätze
Heute stellt sich für Millionen Mesoamerikaner:innen mehr denn je die Frage: «Wohin gehen?» Denn die nördliche Hemisphäre leidet unter der Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems infolge der Rücknahme von Obamacare während der Regierungszeit Trumps und unter der massiven Arbeitslosigkeit infolge der Pandemie. Es müssen also tragfähige ökosystemische Vorschläge gefunden werden, die in der Lage sind, das durch Lockdowns und Krankheit zerstörte soziale Gefüge in einer postkapitalistischen Phase unter einem neuen Vorzeichen wieder aufzubauen. Humanitäre Trostpflaster und Aufnäher reichen nicht mehr aus.
«Um die Welt zu retten, ist es notwendig, das System zu ändern», sagen die Aktivist:innen in den Umweltbewegungen. Dazu ist es notwendig, eine radikale Form der Umverteilung des Reichtums zu finden, wozu die Bereitschaft in den USA im Augenblick größer zu sein scheint als in Europa.
Es ist dringend notwendig, Netzwerke und Bündnissysteme aufzubauen, die die Gemeinden durch den Aufbau von Infrastruktur stärken, die auf lokaler, regionaler und kontinentaler Ebene verwurzelt ist. Dazu bedarf es u.a. verschiedener mesoamerikanischer Migrationszentren, in denen das Wissen und die Erfahrungen der Daheimgebliebenen mit den Erkenntnissen von Friedens- und Umweltaktivist:innen interdisziplinär zusammenfließen.
Um zu verhindern, dass es sowohl in den Ursprungs- als auch in den Zielländern der Migrant:innen zu einem völligen Zusammenbruch der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur kommt, braucht es mehr als humanitäre Hilfe und die Einhaltung der Menschenrechte. Vor allem braucht es bei der überwiegenden Mehrzahl der politisch Verantwortlichen, aber auch bei weiten Kreisen der Bevölkerung (vor allem im Norden) das Bewusstsein, dass Migration und Flucht desto stärker werden, je stärker die Kräfte sind, die versuchen – oft unter dem Einsatz von Gewalt – sie aufzuhalten.
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