Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2021

Gegen den österlichen Lockdown ist die Industrie Sturm gelaufen. Nun winkt sie mit Inflationsgefahr
von Ingo Schmidt*

Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 2008 sorgen sich selbst hartgesottene Kaufkraftverteidiger eher um Deflation, also ein Sinken des allgemeinen Preisniveaus, als um Inflation. Dass die Preise für einzelne Ausgabenposten gestiegen sind, dass insbesondere die Mieten von einem Indexwert 100 im Jahr 2004 auf 148 im vergangenen Jahr hochgeschossen sind, steht auf einem anderen Blatt.

Im Februar lag die offizielle Inflationsrate bei 1,4 Prozent. Gegenüber dem Sommer und Herbst 2020, als sie zwischen ?0,3 und 0 Prozent schwankte, ist das ein Anstieg. Aber dieser Wert liegt immer noch unter dem Niveau vor der Pandemie. Von Inflationsgefahr war im Frühjahr 2020 nichts zu hören. Der Unterschied zu heute? Vor dem Lockdown lagen die öffentlichen Haushalte mit 1,5 Prozent – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – im Plus. Der Anstieg der Ausgaben im Laufe der Pandemie hat die schwarze Null kassiert, die Defizitquote für das Gesamtjahr 2020 lag bei 4,8 Prozent, in den USA und Großbritannien sind es 10 bzw. 11,5 Prozent.
In Deutschland reicht die Hälfte, um bei den Stabilitätswächtern die Alarmglocken schrillen zu lassen. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um die Inflation, sondern um die Sanierung der Staatsfinanzen. Ließen sich die Ausgabensteigerungen während der Pandemie schon nicht vermeiden, muss bereits vor deren Ende die schwarze Null wieder ins Visier genommen werden. Damit alles wieder seinen austeritären Gang geht.

Trotz hoher Neuverschuldung steigen die Preise nur mäßig
Der Frühjahrslockdown hatte kaum begonnen, als aus Wirtschaftskreisen die ersten Inflationswarnungen kamen. Die Unterbrechung der Lieferketten würde zu Knappheit bei verschiedenen Rohstoffen, Zwischen- und Endprodukten führen. Was dann noch zu haben sei, würde zu massiv steigenden Preisen verkauft. Klingt plausibel, kam aber anders.
Schon vor dem Lockdown bewegte sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hart an der Rezessionsgrenze. Im ersten Quartal 2020 ging sie um 2,2 Prozent zurück und brach im zweiten, dem «Lockdown-Quartal» mit ?9,7 Prozent drastisch ein. Die Industrieproduktion war schon seit 2018 rückläufig. Ein klares Zeichen, dass es auch ohne Corona zu einem Abschwung der Konjunktur gekommen wäre. Dass der Einbruch so tief war, lag aber ganz klar am Lockdown. Sinkende Nachfrage führt zu sinkenden Preisen. Lehrbuchweisheiten erfüllen sich nicht immer, aber manchmal: Die Inflationsrate sank unter null, wurde genau genommen zu einer Deflationsrate.
Eine drastische Erhöhung kreditfinanzierter Staatsausgaben bremste das Sinken von Preisniveau und Beschäftigung allerdings und trug zum Wiederanziehen der Produktion in der zweiten Jahreshälfte bei.
Ein weiterer Faktor: Die Lockerung des Lockdown im Sommer und die Einführung eines differenzierten Lockdown im Herbst: Arbeit na klar, auch wenn sie sich nicht im Homeoffice erledigen lässt. Kino, Kneipe und Konzert gehen gar nicht. Einkaufen vor Ort hier und da. Eine zweite Infektionswelle ließ sich damit nicht verhindern. Aber die Geschäfte liefen wieder besser. Nicht gerade im Einzelhandel und Gastgewerbe, dafür umso besser bei Bringdiensten und Online-Shops. Die gesamtwirtschaftliche Produktion ging im dritten Quartal um 8,5 Prozent nach oben, im vierten nur noch um 0,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit pendelte sich um die Jahreswende bei 4,6 Prozent ein. Von 3 Prozent im Sommer 2019 war sie bereits vor dem Frühjahrslockdown auf 3,6 Prozent 2020 gestiegen.
Und die Inflationsgefahren? Der Anstieg der Inflations- bzw. Deflationsrate von ?0,3 Prozent im Herbst 2020 auf gegenwärtig 1,4 Prozent nimmt sich rechnerisch gewaltig aus. Betrachtet man diese Werte über einen längeren Zeitraum, fallen die 1,4 Prozent in die Kategorie: «immer noch deutlich unter der 2-Prozent-Zielmarke der EZB».
Mit der Wirtschaftsstatistik wohl vertraut, haben die Stabilitätswächter ihre Diskursstrategie geändert. Die Rückkehr zum langfristigen Durchschnitt unter 2 Prozent wurde gehörig aufgebauscht und, ohne dies theoretisch näher auszuführen, öffentlichen Defiziten und Ausgaben angelastet.
Die eigentliche Gefahr lauere in der Zukunft. Der Kino-, Kneipen- und Konzert-Lockdown, vom ausgefallenen Urlaub ganz zu schweigen, habe zu einem Ausgabenstau geführt. Dieser werde nach der Pandemie zu einem flutartigen Anstieg der Nachfrage führen, dem kein ausreichendes Angebot seitens der Unternehmen gegenüberstehe. Zu Wucherpreisen würden die Regale leergekauft. Der Staat müsse sich dringend als Käufer zurückhalten, um dieses Szenario «hohe Preise – leere Regale» zu verhindern. Außerdem müsse er seine Schulden zurückzahlen, denn die seien die eigentliche Inflationsursache. Wieso das so ist, erfahren wir weiterhin nicht. Ebenso wenig wird erklärt, was an der Inflation, so es sie denn gäbe, so problematisch ist.

Gibt es nach Corona einen Run auf die Geschäfte?
Der Inflationsdiskurs beruht auf der Annahme, es gebe tiefsitzende Inflationsängste, die sich bei Bedarf eines rigiden Sparkurses politisch mobilisieren ließen. In den 1970er Jahren hat das prima geklappt. Gegen Ende des Jahrzehnts zeichneten sich Mehrheiten für eine Wende zur Austeritätspolitik ab, die seither den wirtschaftspolitischen Grundton angibt und nur in akuten Rezessionsfällen von keynesianischen Zwischenspielen unterbrochen werden darf. Damals lebten allerdings auch noch viele, die sich an die Hyperinflation 1923 oder wenigstens an die Schwarzmarktinflation im Vorfeld der Währungsreform 1948 erinnern konnten.
Die Inflationsraten schwankten damals zwischen einem Höchstwert von 7 Prozent 1973 und einem Tiefstwert von 2,7 Prozent 1978. 1981 stiegen sie nochmals auf 6,3 Prozent. Ob die aktuellen Werte ausreichen, um ein halbes Jahrhundert später wieder Angst und Schrecken zu verbreiten, ist ungewiss. In den letzten Jahrzehnten wurde die Inflationsangst vom Unbehagen in einer globalisierten Welt überdeckt: Kapital- und Migrationsströme, Kampf um Rohstoffe und Verbreitung von Schadstoffen verursachen Ohnmachtsgefühle.
Ungewiss ist außerdem, was die privaten Haushalte mit ihren Ersparnissen anfangen, wenn außer dem Weg zur Arbeit irgendwann auch Kino und andere Freizeitvergnügen wieder erlaubt sein sollten. Tatsache ist, dass die Sparquote der privaten Haushalte von 11,7 Prozent im Februar 2020 auf 20,3 Prozent im Juli angestiegen und seither auf 17,7 Prozent leicht zurückgegangen ist. Ein beispielloser Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Angstsparen in Rezessionszeiten ist eine übliche, nebenbei bemerkt krisenverstärkende, Reaktion. Jedenfalls in Haushalten, denen das Geld nicht schon vor Monatsende ausgeht.
Auch die Verunsicherung über die Zukunft war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so groß wie jetzt. Hört die Pandemie überhaupt je auf? Folgt bald die nächste? Die Pandemie bündelt die Globalisierungsängste, die sich zuvor an verschiedenen Themen entzündet haben, vielleicht auch Inflationsängste, und verdichtet sie zu einer allgemeinen Zukunftsangst. Niemand kann wissen, ob Haushalte bei der ersten Gelegenheit ihre Sparkonten plündern, um sich in einem Konsumrausch von ihren Ängsten abzulenken oder lieber als Notgroschen behalten.
Ziemlich sicher ist dagegen, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, auch wenn sie in näherer Zukunft stark steigen sollte, das Angebot nicht übersteigen wird. Ein postpandemischer Konsumrausch mag negative gesellschaftliche Folgen haben, weil er die während der Pandemie durcheinandergewirbelte Werteskala des Börse-und-Shopping-über-alles wiederherstellen würde.
Inflation zählt nicht zu seinen wirtschaftlichen Nebenfolgen. Vor dem Lockdown lag die Kapazitätsauslastung bei 81,3 Prozent, brach bis zum Sommer um über 10 Prozent ein und liegt jetzt wieder auf Vor-Pandemie-Niveau. Und damit deutlich unter dem Höchstwert des letzten Konjunkturzyklus, der mit 87,7 Prozent im Juli 2018 erreicht war. Mindestens bis zu dem Wert kann die Produktion steigen, ohne dass Produktionsengpässe auftreten und Inflationsdruck ausüben.
Auch Arbeitskräftemangel steht nicht zu befürchten. Dass die Produktion seit dem letzten Sommer wieder stark gestiegen ist, die Beschäftigung aber nicht, zeigt wie flexibel das Produktionsniveau heraufgefahren werden kann, ohne Neueinstellungen vorzunehmen.
Inflationswarnungen gehören ins Reich der Spekulation. Aber diese Spekulationen beeinflussen die Wirklichkeit: Sofern sie geglaubt werden, bereiten sie einer neuen Welle der Austerität den Boden. Selbst wenn sich nur wenige von der Inflationsangst anstecken lassen, lenkt die Debatte darüber von den realen Problemen ab, die von der Pandemie gebündelt und verstärkt wurden: Sie drehen sich alle um einen Umbau der Wirtschaft in der Weise, dass Mensch und Natur so miteinander leben können, dass nicht jeder neue Virus zu einer sozialen Krise führt.

*Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada. Er ist aktiv im World Peace Forum und bei Hope Against Racism. Früher war er beim Göttinger Betriebsexpress.
Sein letztes Buch:
Das Kapital@150, Russische Revolution@100. Hamburg: VSA, 2017. 

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