Organizing ist nicht gleich Organizing. Beim Ansatz von Jane McAlevey kommt es darauf an, die Neutralen zu organisieren, nicht die ohnehin Aktiven
von Florian Wilde*
Als vor 15 Jahren die ersten Organizing-Pilotprojekte in Deutschland in einer Kooperation von Ver.di mit der US-amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU gestartet wurden, war diese Übernahme spezifischer, von den amerikanischen Gewerkschaften entwickelten Organisierungsmethoden hierzulande von großen Hoffnungen begleitet.
Organizing versprach den Gewerkschaften eine Perspektive zur Trendumkehr nach vielen Jahren der Defensive und Mitgliederverlusten.
Mit neuen Formen der Ansprache, einer strategischen Kampagnenplanung und einem neuen Fokus auf den Aufbau betrieblicher Aktivenstrukturen sollten die unorganisierten, «weißen Flecken» auf der Gewerkschaftslandkarte erschlossen und auch renitente Arbeitgeber zu Zugeständnissen gezwungen werden.
Insbesondere linke Gewerkschafter:innen, die sich in Organizing-Projekten engagierten, verbanden damit auch die Hoffnung, die deutschen Gewerkschaften durch Organizing grundlegend zu erneuern, partizipativer zu gestalten und das Gewicht der ehrenamtlichen Basis gegenüber den Funktionären zu erhöhen.
Mit den ersten, ab 2006 gemachten Erfahrungen entwickelte und verbreiterte sich die Organizing-Debatte in Deutschland und vermischte sich mit anderen innovativen Bemühungen um gewerkschaftliche Erneuerung. Viele der jungen Organizer:innen, die ihre Fähigkeiten in sozialen Bewegungen und linken Gruppen erworben hatten, fanden über die Organizing-Projekte den Weg in die gewerkschaftliche Hauptamtlichkeit und begannen, ihre Gewerkschaften mitzuprägen.
Deep Organizing
15 Jahre später fällt die Bilanz des Organizing in Deutschland aber durchwachsen aus. Fraglos hat sich viel getan: In vielen Gewerkschaften sind Elemente des Organizing Teil der Sekretärsausbildung und der gewerkschaftlichen Regelarbeit geworden, immer wieder kommen Organizing-Methoden von «Mapping» bis «Charting» bei der Erschließung bisher gewerkschaftsfreier Betriebe und Branchen zum Einsatz, in den Bezirken der IG Metall wurden sogar eigene Erschließungsabteilungen gebildet.
Dennoch haben sich die großen Hoffnungen, mit denen Organizing einst verbunden war, nicht wirklich erfüllt. Weder gelang eine fundamentale, auch in die Breite ausstrahlende Stärkung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht, noch gelang den Organizer:innen eine nachhaltige Veränderung der Gewerkschaften von innen heraus.
Der Hype, der das Organizing zunächst begleitet hatte, schien längst abgeflaut, als die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) durch die Übersetzung des Buches Keine halben Sachen der US-amerikanischen Organizerin Jane McAlevey versuchte, der Debatte neue Impulse zu geben. Denn Jane McAlevey bietet eine plausible Erklärung für die durchwachsene Bilanz des deutschen Organizing an: Das hierzulande über die SEIU implementierte Modell sei bei aller Organizing-Rhetorik in Wahrheit eine Form des Mobilizing, bei der weiterhin der hauptamtliche Apparat alle Hebel in der Hand behält. Und das vor allem auf eine Mobilisierung von aktivistischen Kolleg:innen abziele statt auf den wirklichen Aufbau von Gegenmacht durch Gewinnung echter betrieblicher Mehrheiten und eine Kampagnenführung unter deren Kontrolle.
Dem von ihr kritisierten SEIU-Mobilizing setzt Jane McAlevey die Methoden eines strukturbasierten, «deep organizing» entgegen, wie es der Congress of Industrial Organizations (CIO) in den USA der 30er Jahren erfolgreich entwickelt und darüber das amerikanische Kapital in die beschäftigtenfreundliche Politik des New Deal gezwungen habe.
Den Kern dieses Ansatzes bildet nach Jane McAlevey der Versuch, nicht nur die ohnehin mit einer Gewerkschaft sympathisierenden Kolleg:innen zu Aktionen zu mobilisieren, sondern systematisch auch die neutral bis gewerkschaftsfeindlich gesinnten Kolleg:innen für Gewerkschaftsarbeit zu gewinnen, um durch den Aufbau einer handlungsfähigen Mehrheit im Betrieb andere Formen der Kampffähigkeit zu erzielen.
Jane McAlevey kommt auch deshalb so überzeugend daher, weil ihre Sprechposition bei aller Kritik an den realexistierenden Gewerkschaften eine «von innen» ist und sie ihre Methoden mit zahlreichen praktischen Erfahrungen, die sie in ihrer erfolgreichen Anwendung sammeln konnte, untersetzen und deren Wirksamkeit belegen kann. Sie ging dabei soweit, dass sie Arbeitgeber zu einer Öffnung der Tarifverhandlungen zwingen und, oft auch gegen innergewerkschaftliche Widerstände, eine Beteiligung der gesamten Belegschaft am Verhandlungsprozess durchsetzen konnte.
Ihrer Erfahrung nach beeindruckt nichts einen Arbeitgeber so sehr, wie wenn er im Verhandlungsraum einer hundertköpfigen, planmäßig und entschlossen agierenden Belegschaft gegenübersitzt.
Ihren ersten Auftritt in Deutschland hatte Jane McAlevey auf der Braunschweiger «Streikkonferenz» der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) und lokalen Gewerkschaftsgliederungen im Februar 2019. In der Folge setzte die RLS gemeinsam mit Jane McAlevey die Reihe «Organizing for Power» auf, ein online stattfindendes, internationales Organizing-Trainingsprogramm, das sich an Gewerkschafter:innen und Aktive aus sozialen Bewegungen aus aller Welt richtet.
An den drei bisherigen Kursen haben etwa 10000 Personen aus 70 Ländern teilgenommen, darunter viele Deutsche. Von Uganda über die USA bis Uruguay wurde anschließend von der erfolgreichen Anwendung der vermittelten Methoden in konkreten Auseinandersetzungen vor Ort berichtet. Im Fall der britischen Lehrergewerkschaft NEU sei mit den an «Organizing for Power» inspirierten Methoden sogar die Gewinnung von Zehntausenden neuer Mitglieder gelungen.
Auch bei Streikaktionen in Deutschland konnte in letzter Zeit immer wieder die Anwendung solcher Methoden beobachtet werden, bspw. in Form von Foto-Petitionen, also Transparenten, in denen eine ganze Belegschaft Gesicht für ihre Forderungen zeigt.
Die «Organizing for Power»-Reihe soll weiterentwickelt werden – hin zu einer noch stärkeren Beteiligung von Gewerkschafter:innen insbesondere aus dem globalen Süden. Aber auch didaktisch soll sie hin zu immer effizienteren Methoden der Wissensvermittlung und stärker partizipativen Formaten für den unmittelbaren Austausch der Teilnehmenden untereinander fortgeführt werden.
15 Jahre nach Beginn des Organizing in Deutschland kann man feststellen, dass die Debatte nicht zuletzt durch Jane McAlevey wieder neuen Schwung und neue Impulse erhalten hat. Die Chance sowohl auf eine Stärkung wie auf eine Erneuerung der Gewerkschaften durch Organizing besteht weiterhin.
Im Mai startet die internationale Online-Reihe «Organizing for Power». Der Kurs beginnt am 18.Mai und findet sechs Wochen lang immer dienstags statt, für deutschsprachige Teilnehmer:innen von 18 bis 20 Uhr.
Der Kurs richtet sich nicht an individuelle Teilnehmer:innen, sondern an Gruppen von mindestens zehn Personen, weil er unmittelbar auf eine Stärkung kollektiver Handlungsfähigkeit abzielt.
*Florian Wilde war 2006 als Organizer der ersten Generation für Ver.di im Einsatz. Heute arbeitet er als Gewerkschaftsreferent in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist Herausgeber des Buches Keine halben Sachen von Jane McAlevey.
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